Dettingen. Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf über die Vier-Tage-Woche, einen späteren Renteneintritt und die Arbeitsmoral der jungen Generation.
Wie der Wandel die Arbeitswelt und die deutsche Wirtschaft erfasst, kann Stefan Wolf jeden Tag in der Provinz erleben. Seit 17 Jahren ist Wolf Chef des Automobilzulieferers ElringKlinger, ein Konzern der mit Dichtungen für Verbrennungsmotoren groß geworden ist. Wolf hat den Konzern mit Sitz in Dettingen an der Erms am Fuße der schwäbischen Alb umgekrempelt, ElringKlinger setzt nun auf Batterietechnik und die Brennstoffzelle. Ende Juni ist für Wolf überraschend Schluss – Präsident des mächtigen Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, der die Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie vertritt, wird er aber bleiben.
Herr Wolf, in zwei Wochen werden Sie als Chef von ElringKlinger aufhören – gehen Sie mit 61 Jahren in Rente?
Stefan Wolf: Nein, ich werde mich natürlich neuen Aufgaben widmen. Nach 26 Jahren im Unternehmen und 17 Jahren als Vorstandsvorsitzender gebe ich das Unternehmen in jüngere Hände. Ich blicke auf eine erfolgreiche Zeit zurück. Als ich 2005 in den Vorstand gekommen bin, lag der Jahresumsatz noch bei 460 Millionen Euro – jetzt macht ElringKlinger einen Umsatz von rund 1,8 Milliarden Euro.
Ihr Vertrag wurde erst letztes Jahr verlängert. Inwiefern kam die Entscheidung für Sie überraschend?
Wolf: Es hat mich überrascht, weil dieselben Argumente auch im vergangenen Jahr auf dem Tisch lagen. Ich möchte einer Veränderung an der Konzernspitze aber nicht entgegenstehen.
Die Staatsanwaltschaft Tübingen ermittelt gegen Sie wegen des Vorwurfs des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt. Welche Rolle spielte das für Ihr Aus bei ElringKlinger?
Wolf: Gar keine.
Der Posten des Gesamtmetall-Präsidenten wird in der Regel nur von operativ tätigen Managern ausgeführt. Was heißt das für Ihre Amtszeit?
Wolf: Ich bin gewählt bis Juni 2024 und kann mir gut vorstellen, Beirats- oder Aufsichtsratsmandate für Unternehmen aus der Metall- und Elektroindustrie wahrzunehmen. In diesen Positionen ist man heute deutlich operativer tätig als früher.
In Deutschland ist eine Debatte über eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich entbrannt. Braucht es eine Reduktion der Wochenarbeitstage?
Wolf: Ich halte eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich für einen Riesenfehler, den wir uns nicht leisten können. Wir kämpfen jetzt schon mit unserer Wettbewerbsfähigkeit, viele Unternehmen wollen nicht mehr in Deutschland investieren. Hinzu kommt unser Fachkräftemangel, der sich mit dem Ruhestand der Babyboomer massiv verschärfen wird. Eine sogenannte Vier-Tage-Woche kann man einführen, wenn an den vier Tagen dann mehr gearbeitet wird und dort, wo es betrieblich möglich ist. Dafür muss das antiquierte Arbeitszeitgesetz geändert werden. Für Ruhezeiten und die Grenzen für die tägliche Arbeitszeit sollten endlich die Spielräume auf europäischer Ebene genutzt werden. Zumindest muss die tägliche Höchstarbeitszeit zugunsten einer Wochenhöchstarbeitszeit abgeschafft werden.
Wenn Sie Ruhezeiten abschaffen wollen, könnte das auf die Gesundheit der Beschäftigten schlagen.
Wolf: Die maximale Wochenarbeitszeit muss natürlich eingehalten werden. Aber wer abends auf dem Handy nochmal kurz in die Mails schaut, verletzt eigentlich das Arbeitszeitgesetz. Das ist doch nicht mehr zeitgemäß.
Für Sie wäre es also kein Problem, wenn über 10 oder 12 Stunden am Tag gearbeitet werden würde?
Wolf: Wer der Meinung ist, dass er seine Arbeitszeit mit 12 Stunden am Tag in drei Tagen erledigt, soll das gerne tun. Mitarbeiter wollen kein Korsett, sie wollen Freiheiten. Übrigens sieht das Arbeitszeitrecht für Beamte maximal 13 Stunden vor.
Beschäftigte sollen bald ihre Arbeitszeit konkret erfassen – was bedeutet das für die Unternehmen?
Wolf: Dieser erste Entwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ist ein großer Fehler und einfach unnötig. Wir haben hervorragende Erfahrungen mit Vertrauensarbeitszeit gemacht, die auch bei Arbeitnehmern sehr beliebt ist. Und für die Unternehmen darf es nicht noch mehr Bürokratie geben.
Erste Feldversuche haben gezeigt, dass die Produktivität bei einer Vier-Tage-Woche steigen kann…
Wolf: Nein, das gaben die britischen Versuche beispielsweise gerade nicht her. Kein Wunder, denn in unseren Unternehmen haben wir das Thema Produktivität schon stark ausgereizt. Ich halte es für eine sehr gewagte These, dass man in vier Tagen produktiver als in fünf Tagen arbeitet.
Was heißt die Forderung für die Tarifbindung?
Wolf: Sollte es tatsächlich zu einer kollektiven Reduzierung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich in der Metall- und Elektro-Industrie kommen, werden wir eine massive Tarifflucht erleben. Viele Unternehmen werden solche Vorschläge nicht akzeptieren. Wir sollten uns stattdessen lieber darüber unterhalten, wie diejenigen, die heute schon länger arbeiten wollen, dies auch tun können.
Der Bund will künftig öffentliche Aufträge ab 10.000 Euro nur noch an Firmen vergeben, die nach Tarif zahlen – eine gute Idee?
Wolf: Dass der Bund Unternehmen bei Aufträgen auswählt, die sich an den Tarif anlehnen oder tarifvertragliche Anwendungen erfüllen, ist nicht schlecht. So werden gewisse Mindeststandards eingehalten. Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen zu vergeben halte ich allerdings nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz im Grundgesetz vereinbar.
Was ist Ihr Gegenvorschlag zur Vier-Tage-Woche?
Wolf: Wir können nicht weniger, sondern werden länger arbeiten müssen. Anders ist auch die gesetzliche Rente gar nicht mehr zu finanzieren. Die Rentenkassen sind leer, das Umlagesystem funktioniert nicht mehr richtig, wenn man an die Zukunft denkt. Gleichzeitig erhöht sich die durchschnittliche Lebenszeit und belastet die Rentenkasse zusätzlich. Hinzu kam die Rente mit 63, die ich für einen Riesenfehler halte. Wir können nicht auf Kosten der zukünftigen Generation leben.
Wie sieht Ihre Lösung aus?
Wolf: Wir müssen unterscheiden: Wer körperlich hart arbeitet, kann sicher nicht mit 70 Jahren in Rente gehen. Entsprechend sollte ein späterer Renteneintritt langfristig Standard werden – mit klar definierten Ausnahmen. Klar ist: Wir können nicht auf ewig mit 67 Jahren in Rente gehen – und erst recht nicht mit 63 Jahren.
Die sogenannte Rente mit 63 – also der vorzeitige Ruhestand nach 45 Beitragsjahren – sollte doch genau Rücksicht auf langjährige körperlich harte Arbeit nehmen.
Wolf: Es gehen uns dadurch sehr viele gutverdienende Facharbeiter verloren, so dass der Fachkräftemangel dramatisch verschärft wird. Wir müssen den Aufwuchs bei den Sozialabgaben stoppen. Ansonsten hat der Industriestandort Deutschland im internationalen Wettbewerb schlechte Karten.
Gerade in den Handwerksberufen bleiben viele Ausbildungsplätze unbesetzt. Wie wollen Sie jungen Leuten körperlich fordernde Berufe schmackhaft machen, wenn Sie ihnen gleichzeitig eine spätere Rente in Aussicht stellen?
Wolf: Wir müssen den jungen Leuten klarmachen: Wenn sie im Alter versorgt sein wollen, dann müssen sie länger arbeiten. Handwerk und Industrie haben so viele gute Berufe. Und wir sollten ihnen ermöglichen, dass sie unter der Woche länger arbeiten können, wenn sie das wollen.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände fordert von Beschäftigten „mehr Bock auf Arbeit“. Wirtschaftsweise Monika Schnitzer findet, die Unternehmen bräuchten „mehr Lust auf junge Leute“. Was stimmt?
Wolf: Es gibt doch sehr viele junge Leute, die richtig Lust auf Arbeit haben. Leider machen wir manchmal die Erfahrung, dass die Generation der 20- bis Mitte-30-Jährigen keine realistische Vorstellung vom Arbeiten hat. Es fehlt hier viel Wissen von der betrieblichen Praxis. Manche wollen Vollzeit arbeiten, verstehen darunter aber von 8 bis maximal 14 Uhr. Wir haben Bock auf junge Leute – aber auf solche, die leistungsfähig und leistungswillig sind.
Können Sie sich in Zeiten des Fachkräftemangels diese Einstellung noch erlauben? Schließlich entscheiden die Arbeitnehmer, wo sie arbeiten wollen.
Wolf: Die Einstellung zur Arbeit muss trotzdem stimmen. Um den Fachkräftemangel zu lösen, brauchen wir zusätzlich Menschen aus dem Ausland. Wir müssen als Einwanderungsland attraktiver werden.
Die Ampel-Koalition will dafür das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz reformieren.
Wolf: Die Pläne gehen nicht weit genug. Wir müssen es deutlich einfacher machen, dass Leute aus dem Ausland zu uns kommen, wenn sie eine Ausbildung haben und qualifiziert sind. Dazu gehört, dass man Bürokratie abbaut, sich von starren sprachlichen Voraussetzungen trennt und steuerliche Anreize für die jungen Menschen setzt. Aktuell sind die USA und Kanada in diesem Bereich deutlich interessanter.
Wie wollen Sie ausländischen Fachkräften Deutschland schmackhaft machen, wenn in aktuellen Umfragen fast ein Fünftel angeben, die AfD wählen zu wollen?
Wolf: Ich halte die hohen Zustimmungswerte für die AfD für eine echte Katastrophe. Allerdings handelt es sich um Umfragen, viele wollen der Ampel-Koalition einen Denkzettel verpassen. Ob sie tatsächlich dann auch AfD wählen, würde ich infrage stellen. Diese Menschen fühlen sich in ihren Zukunftsängsten nicht ernst genommen. Die Ampel muss die Kurve kriegen und die Menschen wieder abholen. Dann dreht sich der Trend.
Viele erfolgreiche Mittelständler sitzen im ländlichen Bereich. Wie können diese Firmen an ausländische Fachkräfte kommen?
Wolf: Junge Menschen sind daran interessiert, an einem spannenden und innovativen Produkt zu arbeiten. Im Automobilsektor ist das etwa bei der Brennstoffzelle oder der Batterietechnik der Fall.
In China wird die deutsche Automobilindustrie gerade von chinesischen Autobauern in der E-Mobilität abgehangen…
Wolf: Wir müssen schnell aufholen. Es werden auch in Deutschland Batteriefabriken gebaut – einige aber auch von Chinesen. Bei der Batteriezellfertigung ist China uns schon zu weit voraus, da kommen wir nicht mehr dran. Also brauchen wir andere Produkte, die uns absichern, wie es der Verbrennungsmotor bisher getan hat.
Hat die Industrie zu lange am Verbrennungsmotor festgehalten?
Wolf: Wenn wir in Indien in jedes zweite Auto eine Brennstoffzelle oder eine Batterie einbauen würden, wäre dem Klima viel mehr geholfen, als wenn man bei uns den Verbrennungsmotor verbietet. Die USA, China und Indien sind die größten CO2-Emittenten, da müssen wir ansetzen – am besten mit unserer Technologie, die uns Wohlstand und Arbeitsplätze sichert.
Was heißt es für unsere Wirtschaft, wenn die Aufholjagd misslingt?
Wolf: Dann droht der gesamten deutschen Wirtschaft eine Krise, die eine Deindustrialisierung zur Folge haben wird. Wir sind im Strukturwandel: Es werden nicht alle Unternehmen überleben, einige sind zu spät dran. Arbeitsplätze werden verloren gehen. Es liegt an uns, wie stark die Folgen werden.
Wenn chinesische Unternehmen und auch amerikanische Firmen wie Tesla und Intel in Werke in Deutschland investieren, dann scheint es ja nicht ganz so schlecht um unsere Standortbedingungen zu stehen.
Wolf: Die Chinesen agieren sehr strategisch. Fahrzeughersteller wie BYD, Nio oder Great Wall bauen E-Autos, die teils nur halb so teuer wie die der deutschen Anbieter sind. Nach Toyota, Hyundai und Co. erleben wir nun eine zweite Welle, die den deutschen Automarkt trifft. Das trifft auch die Zulieferer, denn die Chinesen bevorzugen Produkte von ihren eigenen Zulieferern. Wir kommen da nur raus, wenn wir Produkte anbieten, die sonst niemand hat.
Wie kann das gelingen?
Wolf: Der Staat muss massiv Innovationen befördern. Wenn sich ein Wirtschaftsministerium nur mit Heizungen beschäftigt, dann geht nichts voran. Wir müssen endlich aufhören, immer neue Bürokratie zu entwickeln. Das Lieferkettengesetz ist so ein Beispiel. Menschenrechtsverletzungen und Kinderarbeit werden dadurch nicht verhindert, aber es ist ein hoher bürokratischer Aufwand.
Sie sagen ein Aus von Unternehmen voraus – und wollen sie trotzdem mit Steuergeld fördern?
Wolf: Nein, wir müssen die Förderung in Innovationstechnologien erhöhen. Wenn es ein Unternehmen versäumt hat, sich in neue Technologien zu begeben, dann darf da auch kein Steuergeld reinfließen.
Was kostet Sie das Lieferkettengesetz?
Wolf: Bei ElringKlinger wird es uns mehrere Hunderttausend Euro an Mehraufwand kosten. Aber das ist ja nicht die erste regulatorische Anforderung, die hinzukommt. Zur Umsetzung der Datenschutzgrundverordnung beispielsweise mussten wir eine zusätzliche Person einstellen. Entlastungen auf der anderen Seite bleiben aus.
Welche Rolle wird Künstliche Intelligenz bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels spielen?
Wolf: KI wird sicher manche Routinearbeit erledigen können. Aber so eindrucksvoll die eine oder Anwendung auch sein mag: ChatGPT stanzt mir keine Dichtungen. Nein, wir werden unsere Arbeit auf absehbare Zeit auch selbst machen müssen.