Wittgenstein. Die EU fordert, die Fahrtauglichkeit von Menschen ab 70 Jahren regelmäßig zu überprüfen. Wittgenstein ist geteilter Meinung.

Die EU fordert, dass alle Menschen über 70 Jahren alle fünf Jahre ihre Fahrtauglichkeit testen lassen sollen. Damit soll die Zahl der Verkehrstoten halbiert werden, so das erklärte Ziel. Wie diese Tests oder Kontrollen im einzelnen aussehen könnten, steht noch nicht fest. Möglich wären ärztliche Untersuchungen, Seh- und Reaktionstest oder Übungsfahrstunden.

Gerade in ländlichen Gebieten – wie Wittgenstein – ist der Führerschein ein großes Stück Unabhängigkeit und zum Teil sogar notwendig, um sein Leben eigenständig zu meistern. Die Verbindungen mit Bus oder Bahn sind spärlich oder erst gar nicht vorhanden. Die nächste Möglichkeit zum Einkaufen ist oft mehrere Kilometer entfernt. Die Auswirkungen eines solchen Vorhabens sind groß. Aber wie sinnvoll ist der Gesetzesentwurf der EU überhaupt?

Das zeigt die Unfallstatistik

Ein Blick auf die Polizeiliche Verkehrsunfallstatistikdes Kreises Siegen-Wittgenstein zeigt für 2022 einen leichten Anstieg der im Straßenverkehr Verunglückten Senioren (über 65 Jahre): Es gab neun Verunglückte mehr, insgesamt 96 verunglückte Senioren. Das ist die zweitniedrigste Verunglücktenzahl seit 2014. Es gab auch erstmals seit 2014 keinen im Straßenverkehr tödlich verunglückten Senior.

Im Vergleich dazu sind 125 junge Erwachsene (im Alter von 18 bis 24 Jahren) verunglückt – in der Regel die Fahranfänger. Das sind vier weniger als im Vorjahr. Ebenfalls ist kein junger Erwachsener tödlich verunglückt.

Insgesamt gab es im Kreis 779 Verunglückte bei 9227 Verkehrsunfällen.

„Es lässt sich nicht pauschal sagen, dass wenn Leute älter werden, sie automatisch mehr Unfälle bauen. Sie können auch topfit sein und ihnen passiert ein Unfall, so wie es jungen Leuten auch passieren kann“, erklärt Niklas Zankowski, Pressesprecher der Polizei Siegen-Wittgenstein. „Die Polizei kann bei Fahruntüchtigkeit eine Empfehlung an die Straßenverkehrsbehörde geben, die weitere Schritte einleiten kann. Das kommt immer wieder vor“, so der Polizeisprecher weiter. Die Krux an der Sache: Senioren werden oft mit der Gruppe der jungen Erwachsenen – also der Fahranfänger – verglichen. „Die 18- bis 24-Jährigen sind ungefähr 20.000 Personen im Kreis, bei den über 65-Jährigen haben wir die dreifache Menge“, sagt Zankowski. Laut den Zahlen der Unfallstatistik aber nicht die dreifache Menge an Unfällen.

Selbsteinschätzung fördern

Marciel Bartzik, Vorsitzender der Verkehrswacht Siegerland-Wittgenstein, sagt, es sei unumstritten, dass bei steigendem Alter körperliche Einschränkungen auftauchen. Aber: „Die Unfallzahlen gehen nicht zu Lasten der Senioren.“ Für den Vorsitzenden der Verkehrswacht sind verpflichtende Test keine Lösung, er setzt auf freiwillige Weiterbildungsangebote. „Spezielle Trainings für Senioren ab 65 Jahren gibt es bereits, mit einem Trainer, der speziell dafür ausgebildet ist: Hier können die Senioren die eigenen Grenzen kennenlernen, Verkehrsstrategien entwickeln, eine selbstkritische Fahrweise aufbauen. Außerdem gibt es Dehnungsübungen für Schulterblick, die man vor der Fahrt machen kann, um die Mobilität zu verbessern.“ Er appelliert an die Vernunft: „Immer vor der Fahrt fragen: Bin ich heute fahrtauglich?“ Diese Einsichtsfähigkeit oder das Beurteilungsvermögen fehlt bei vielen, so Bartzik.

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Es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt: „Nicht die Anzahl der Unfälle sind bei Senioren entscheidend, sondern die Folgen: Verletzungen, die junge Menschen eher wegstecken, sorgen bei älteren oft für Krankenhaus-Besuche“, erklärt Marciel Bartzik. Seine Empfehlung für alle – ob jung oder alt: „An Reaktions- und Sehtest der Verkehrswacht teilnehmen. Auch jüngere Verkehrsteilnehmer können so ihre Fahrtauglichkeit überprüfen.“

Spezielle Fahrtrainings bei der Verkehrswacht möglich

Die Verkehrswacht bietet spezielle Seniorenfahrtrainings an. Die Trainings seien meist in Kooperation mit den Seniorenservicestellen der Städte und Kommunen organisiert worden, erklärt der Vorsitzende. „Corona hat das zum Erliegen gebracht. Am 30. Juli findet das nächste Seniorentraining auf dem Autohof der Autobahnanschlussstelle Wilnsdorf statt. Auch alle Wittgensteiner Senioren sind herzlich eingeladen“, so Bartzik.

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Ständig auf den Straßen Wittgensteins unterwegs und über die Gefahren im Bilde sind Fahrlehrer, die in der Regel dem Nachwuchs das Fahren beibringen. Aber auch Übungsstunden mit Senioren stehen auf dem Programm. So berichtet Dirk Schwarz, der in allen drei Wittgensteiner Kommunen mit einer Fahrschule vor Ort ist: „Es kommt sehr häufig vor, dass ältere Menschen Übungsstunden machen. Es hat sich herumgesprochen, Ärzte empfehlen mich weiter.“

Mit einer Übungsstunde bei der Fahrschule Sicherheit gewinnen

Zum Vorschlag der EU, eine Art Senioren-TÜV einzuführen, sagt er: „Es gibt zwei Sichtweisen: die EU kann man verstehen. Die Reaktionszeit und Sehvermögen verschlechtern sich, aber wo bleibt die Selbstbestimmung? Was genau kommen wird, wird man noch sehen.“ Er ist sich aber sicher: „Wenn es auf freiwilliger Basis gemacht wird, wird es kaum genutzt“, so der Fahrlehrer weiter.

Auch Menschen unter 70 Jahren können nicht mehr fahrtauglich sein, zum Beispiel nach einem Schlaganfall. In solchen Fällen werden die Patienten vom Arzt in die Fahrschulen geschickt, um eine Übungsstunde zu absolvieren. Nach einer Fahrstunde erhalten sie entweder eine Unbedenklichkeitsbescheinigung oder die Empfehlung, das Fahren (vorerst) lieber bleiben zu lassen.

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Udo Rath, Fahrlehrer in Bad Berleburg, sieht den Vorschlag der EU kritischer: „Es gibt die Regelung, dass wir den Führerschein lebenslang erhalten, bei Auffälligkeiten im Fahrverhalten reagiert die Behörde. Ich persönlich bin der Meinung, das sollte man so lassen.“ Er appelliert an die Selbstbestimmung und das Angebot an alle, die sich unsicher sind, einen „Fahr-Check“ in der Fahrschule zu machen. „Wir brauchen nicht noch mehr Regelungen.“

Senioren in Wittgenstein sind auf ihr Auto angewiesen

Für betroffene Senioren, die eventuell nicht weiter fahren dürfen, wäre die Situation in Wittgenstein schwierig. „Ich persönlich würde gerne so einen Test machen, aber nicht verpflichtend, sondern freiwillig! Für mich, um zu sehen, wie meine Fahrtauglichkeit ist. Aber nicht als Gesetz“, sagt Karl-Heinz Graf aus Wemlighausen. Zum Einkaufen in der Kernstadt benötigt der 87-Jährige sein Auto: „Ich müsste sonst erstmal zur Bushaltestelle ,Am Stein’ laufen, dann in Berleburg irgendwohin laufen und wieder zurück. Das ist sehr umständlich. Hier ist man auf ein Auto angewiesen.“ Sein Fazit ganz klar: „Wenn ich keine Auto mehr hätte, wäre das für mich, wie wenn ich amputiert wäre.“

In den meisten Ortschaften im Wittgensteiner Land gibt es keine Einkaufsmöglichkeit vor Ort. Der Weg in die nächstgrößere Stadt ist somit Pflicht. „In Sassenhausen ohne Auto? Nein!“, sagt Margarete Fuchs. „Die Fahrtauglichkeit testen macht schon Sinn, denn im Alter denkt man oft: Das kann man noch. Aber dann müsste für die Tauglichkeitstests gelten: alle oder keiner. Denn es gibt bestimmt auch Jüngere, die Schwierigkeiten dabei haben“, so die 74-Jährige.

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