Erndtebrück. Menschen sterben, Kinder liegen verletzt auf der Straße, ein Soldat verliert viel mehr als nur sein verbliebenes Bein: Das war der 10. März 1945.

Wenn am 10. März in Erndtebrück die Kirchenglocken läuten, dann läuten sie für die 86 Menschen, die an diesem Tag im Jahr 1945 durch alliierte Bombenangriffe auf Erndtebrück ihr Leben verloren. Und sie läuten auch als Mahnung an alle, den Krieg und seine Opfer niemals zu vergessen. Das tragische Schicksal von Walter Völkel steht beispielhaft für all jene, die damals mit dem Leben davon gekommen sind – und macht die Schrecken, die vor 78 Jahren Erndtebrück heimsuchten, auch heute noch greifbar.

Am 10. März 1945 liegt eine dichte Wolkendecke über dem kleinen Erndtebrück. 2548 Menschen leben zu diesem Zeitpunkt in dem Eisenbahnerdorf. Walter Völkel, der 1941 als Soldat am Oberarm verletzt wurde und 1943 durch eine Panzergranate auf der Dnjepr-Eisenbahnbrücke bei Tschernikow sein linkes Bein am Oberschenkel verlor, kommt gerade aus dem Militärlazarett in Marburg nach einem Bombenangriff zurück nach Erndtebrück. Der Zug fuhr zuvor jedoch nur bis Sarnau.

Luftaufnahme der US-Air Force vom 22. Februar 1945. Sie zeigt die Bombeneinschläge beim Angriff auf den Erndtebrücker Bahnhof. Diesem Angriff folgten weitere auf den Verkehrsknotenpunkt Erndtebrück. Der verheerendste mit über 80 Toten fand am 10. März 1945 statt. Das Foto stammt aus Peter Schneiders Buch
Luftaufnahme der US-Air Force vom 22. Februar 1945. Sie zeigt die Bombeneinschläge beim Angriff auf den Erndtebrücker Bahnhof. Diesem Angriff folgten weitere auf den Verkehrsknotenpunkt Erndtebrück. Der verheerendste mit über 80 Toten fand am 10. März 1945 statt. Das Foto stammt aus Peter Schneiders Buch "Spione am Himmel". Luftaufnahme der US-Air Force vom 22. Februar 1945. Sie zeigt die Bombeneinschläge beim Angriff auf den Erndtebrücker Bahnhof. Diesem Angriff folgten weitere auf den Verkehrsknotenpunkt Erndtebrück. Der verheerendste mit über 80 Toten fand am 10. März 1945 statt. Das Foto stammt aus Peter Schneiders Buch "Spione am Himmel". © WP | US-Air Force

Dort musste Walter Völkel mit den anderen Reisenden im Bahnhof übernachten. Am Samstag, den 10. März kommt der Zug in Erndtebrück an. Walter Völkel muss am Bahnübergang Hauptmühle aussteigen – der alliierte Angriff mit der Operation „Clarion“ am 22. Februar, der das deutsche Verkehrsnetz lahmlegen sollte, hatte die Eisenbahnbrücke zerstört und die Bahnhofsumgebung in ein Trümmerfeld verwandelt.

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Walter Völkel muss also nun mit Armstützen in Richtung Ortsmitte humpeln. „Noch heute stimmt es mich bedenklich, dass mich ein Bekannter aus der Oststraße bat, doch bei ihm zu bleiben und nicht weiter zu gehen“, berichtete er 1985 der Westfalenpost über den folgenschweren Tag.

Sirenen ertönen, Bomber dröhnen

Doch Walter Völkel will zu seiner Verlobten Margret Marburger im Haus Backes Ecke. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zum Haus Six in der Bergstraße – dort sind seine Eltern untergebracht, nachdem das eigene Haus am 22. Februar durch Bordwaffenbeschuss in Brand geriet und völlig zerstört wurde. Es ist jetzt kurz nach 14 Uhr und noch unterwegs hört das Paar die Sirenen und die herannahenden Bomber. Sehen können sie die Flieger wegen der Wolkendecke jedoch nicht. Beim Haus angekommen geschieht das Unfassbare: Gleich zwei Bomben treffen das Gebäude.

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Water Völkel wird durch die Luft geschleudert und kommt 20 Meter entfernt vom Haus wieder zu sich. Als er sich umblickt, sieht er Bilder, deren Beschreibung auch heute noch fassungslos machen: Zwei fünfjährige Mädchen liegen wimmernd neben ihm auf der Straße, beide haben gebrochene Oberschenkel. Nicht weit entfernt von ihm liegt die Leiche eines Dreijährigen. „Alle, die den Schutzraum erreicht hatten, waren umgekommen“, schilderte er 1985 mit bewegter Stimme der Westfalenpost.

Walter Völkel wurde verletzt, das ihm verbliebene Bein ist gebrochen und er hat zahlreiche Verletzungen am Brustkorb, Ellenbogen und dem Kopf. Weitere Aufzeichnungen, die der Heimatverein Erndtebrück auf seiner Homepage zur Verfügung stellt, geben Aufschluss darüber, was als nächstes geschah: „Hilflos am Boden liegend vernahm ich das Dröhnen der mittelschweren Bombenflugzeuge der zweiten Welle und das Krachen von weiteren Bombeneinschlägen.“

Luftaufnahme vom 24. März 1945 - Sie zeigt Erndtebrück, das verheerend von Bomben getroffen wurde. Bei diesem Angriff starben damals über 80 Menschen. Bild aus dem Fundus von Peter Schneider.
Luftaufnahme vom 24. März 1945 - Sie zeigt Erndtebrück, das verheerend von Bomben getroffen wurde. Bei diesem Angriff starben damals über 80 Menschen. Bild aus dem Fundus von Peter Schneider. © WP | Archiv

Die schreckliche Bilanz: Zehn Tote in den Familien Völkel und Six, darunter auch Walter Völkels Verlobte, sein Großvater, seine Mutter und seine Schwester. „Die leblosen Körper meiner Braut und meiner Schwester fanden die Helfer 20 Meter über dem Haus auf den Feldern am unteren Gickelsberg.“ Die Toten werden in der Kirche niedergelegt. Die 120 zum Teil Schwerverletzten, die auf den Abtransport warten, bilden eine lange Reihe am Rand der Bergstraße. Walter Völkel selbst wird zusammen mit anderen auf einem offenen Lastwagen nach Berleburg gebracht – dort wird er jedoch nicht aufgenommen, da er Soldat ist. Daher wird er nach Laasphe in das Reservelazarett gebracht.

75 Jahre Kriegsende in der Region

Am 29. April 1945 werden im Sauerland bei Plettenberg immer wieder deutsche Soldaten gefasst, die sich aus dem Gebiet des früheren „Ruhrkessels“ absetzen und der Kriegsgefangenschaft entziehen wollen. Vor allem Jugendliche werden genau überprüft, denn die Befürchtungen vor dem „Werwolf“ war bei den US-Truppen allgegenwärtig. Die Fotos zeigen deutsche Soldaten, die bei Plettenberg durch die “Intelligence Section” der 75. US-Infantry Division in Zivilkleidung und Uniform aufgegriffen, überprüft und einem provisorischen Gefangenenlager zugeführt werden. 
Am 29. April 1945 werden im Sauerland bei Plettenberg immer wieder deutsche Soldaten gefasst, die sich aus dem Gebiet des früheren „Ruhrkessels“ absetzen und der Kriegsgefangenschaft entziehen wollen. Vor allem Jugendliche werden genau überprüft, denn die Befürchtungen vor dem „Werwolf“ war bei den US-Truppen allgegenwärtig. Die Fotos zeigen deutsche Soldaten, die bei Plettenberg durch die “Intelligence Section” der 75. US-Infantry Division in Zivilkleidung und Uniform aufgegriffen, überprüft und einem provisorischen Gefangenenlager zugeführt werden.  © Stadtarchiv Hagen | Cpl Joseph Karr, US-Signal Corps
Blick zu Ostern 1947 über die zerstörte Hagener Innenstadt mit den Ruinen der Marien- und Johanniskirche. Ein Foto von Otto Fernholz auf Agfa-Color-Diafilm.
Blick zu Ostern 1947 über die zerstörte Hagener Innenstadt mit den Ruinen der Marien- und Johanniskirche. Ein Foto von Otto Fernholz auf Agfa-Color-Diafilm. © Stadtarchiv Hagen | Otto Fernholz
Der Krieg ist aus! In Milspe zerschlägt ein deutscher Soldat am 14. April 1945 seine Waffe.
Der Krieg ist aus! In Milspe zerschlägt ein deutscher Soldat am 14. April 1945 seine Waffe. © Stadtarchiv Hagen | Stadtarchiv Hagen
HJ-Führer bilden bei der Jugendherberge in Hohenlimburg im März 1945 Jugendliche an der Panzerfaust aus. Sie sollen gegen die hochgerüsteten Alliierten kämpfen.
HJ-Führer bilden bei der Jugendherberge in Hohenlimburg im März 1945 Jugendliche an der Panzerfaust aus. Sie sollen gegen die hochgerüsteten Alliierten kämpfen. © Stadtarchiv Hagen | Stadtarchiv Hagen
 Blick aus einer tieffliegenden US-Maschine am 12. Mai 1945 in das Ruhrtal bei Arnsberg. Die Umgebung des Ruhrviadukts sieht nach dem Abwurf von zahlreichen Bomben wie eine Mondlandschaft aus.
 Blick aus einer tieffliegenden US-Maschine am 12. Mai 1945 in das Ruhrtal bei Arnsberg. Die Umgebung des Ruhrviadukts sieht nach dem Abwurf von zahlreichen Bomben wie eine Mondlandschaft aus. © Stadtarchiv Hagen | Stadtarchiv Hagen
Als Reichsverteidigungskommissar versuchte der südwestfälische Gauleiter Albert Hoffmann (1907-1972, Bildmitte) von seiner Befehlsstelle auf dem Harkortberg bei Wetter/Ruhr den Widerstand gegen die anrückenden US-Truppen zu organisieren. Doch schon am 13. April 1945 ergriff er die Flucht in vorbereitete Verstecke, ließ noch mehrere Ruhrbrücken sprengen und löste die NSDAP in seinem Gau auf.
Als Reichsverteidigungskommissar versuchte der südwestfälische Gauleiter Albert Hoffmann (1907-1972, Bildmitte) von seiner Befehlsstelle auf dem Harkortberg bei Wetter/Ruhr den Widerstand gegen die anrückenden US-Truppen zu organisieren. Doch schon am 13. April 1945 ergriff er die Flucht in vorbereitete Verstecke, ließ noch mehrere Ruhrbrücken sprengen und löste die NSDAP in seinem Gau auf. © Stadtarchiv Hagen | Stadtarchiv Hagen
Zerstörungen in der Akkumulatoren Fabrik AG in Hagen, fotografiert am 8. Mai 1945 durch Cpl Joseph Karr, US-Signal Corps. Die Fabrik war das Zentrum der Batterie-Forschung im Reich und einer der Hauptlieferanten für U-Boot- und Torpedobatterien sowie von Bordbatterien für die Fernrakete
Zerstörungen in der Akkumulatoren Fabrik AG in Hagen, fotografiert am 8. Mai 1945 durch Cpl Joseph Karr, US-Signal Corps. Die Fabrik war das Zentrum der Batterie-Forschung im Reich und einer der Hauptlieferanten für U-Boot- und Torpedobatterien sowie von Bordbatterien für die Fernrakete "V2". © Stadtarchiv Hagen | Cpl Joseph Karr, US-Signal Corps
"Victory Day" am 8. Mai 1945 im befreiten Stalag VI in Hemer. Im April 1945 fanden die US-Truppen dort tausende Tote und unbeschreibliches Leid unter den meist sowjetischen Kriegsgefangenen vor.  © Stadtarchiv Hagen | Cpl Joseph Karr, US-Signal Corp
Katholischer Feldgottesdienst für im „Ruhrkessel“ in Kriegsgefangenschaft geratene deutsche Soldaten am 8. Mai 1945 in einem provisorischen Sammellager der 75. US-Infantry Division bei Plettenberg. Fotografie von Cpl. Joseph Karr, US-Army Signal Corps.
Katholischer Feldgottesdienst für im „Ruhrkessel“ in Kriegsgefangenschaft geratene deutsche Soldaten am 8. Mai 1945 in einem provisorischen Sammellager der 75. US-Infantry Division bei Plettenberg. Fotografie von Cpl. Joseph Karr, US-Army Signal Corps. © Stadtarchiv Hagen | Cpl. Joseph Karr, US-Army Signal Corps
Buch Ralf Blank Hagen 15. März 1945 Zerstörte Stadt, Besetzung und Kriegsverbrechen. Bombenangriff / 2. Weltkrieg
Buch Ralf Blank Hagen 15. März 1945 Zerstörte Stadt, Besetzung und Kriegsverbrechen. Bombenangriff / 2. Weltkrieg © Historisches Centrum Hagen | Stadtarchiv Hagen
Buch Ralf Blank Hagen 15. März 1945 Zerstörte Stadt, Besetzung und Kriegsverbrechen. Bombenangriff / 2. Weltkrieg
Buch Ralf Blank Hagen 15. März 1945 Zerstörte Stadt, Besetzung und Kriegsverbrechen. Bombenangriff / 2. Weltkrieg © Historisches Centrum Hagen | Stadtarchiv Hagen
Am Ende des Zweiten Weltkriegs brauchten viele eine neue Wohnung, da durch Artilleriebeschuss Häuser (dieses  stand in Herdecke, das Stadtarchiv Hagen kann keine Angaben zur genauen Datierung und Örtlichkeit machen) zerstört waren
Am Ende des Zweiten Weltkriegs brauchten viele eine neue Wohnung, da durch Artilleriebeschuss Häuser (dieses  stand in Herdecke, das Stadtarchiv Hagen kann keine Angaben zur genauen Datierung und Örtlichkeit machen) zerstört waren © WP | Stadtarchiv Hagen
2. großer Bombenangriff auf Hagen am 2. Dezember 1944 / Luftangriff / PL-43469 Eine
2. großer Bombenangriff auf Hagen am 2. Dezember 1944 / Luftangriff / PL-43469 Eine "Halifax" der 6 Royal Canadian Air Force im Herbst 1944. Dieser Flugzeugtyp stellte mit mehr als 390 Bombern beim Luftangriff auf Hagen am 2. Dezember 1944 den Hauptanteil unter den 504 eingesetzten Maschinen. (National Archives, Ottawa) © Satdtarchiv | Stadtarchiv Hagen
2. großer Bombenangriff auf Hagen am 2. Dezember 1944 / Luftangriff / Johanniskirche
2. großer Bombenangriff auf Hagen am 2. Dezember 1944 / Luftangriff / Johanniskirche © Satdtarchiv | Stadtarchiv Hagen
Nach dem deutschen Angriff im Westen am 10. Mai 1940 informieren sich Hagener am Redaktionsgebäude der Westfälischen Landeszeitung
Nach dem deutschen Angriff im Westen am 10. Mai 1940 informieren sich Hagener am Redaktionsgebäude der Westfälischen Landeszeitung "Rote Erde" in der Körnerstraße. Fotografie von Willy Lehmacher (Stadtarchiv Hagen) © Stadtarchiv Hagen | Stadtarchiv Hagen
Beim ersten Bombenangriff am 1. Oktober 1943 werden weite Teile der Hagener Innenstadt rund um Mittelstraße und Elberfelder Straße zerstört, Zweiter Weltkrieg, Bombe, Flieger, Angriff,image description
Beim ersten Bombenangriff am 1. Oktober 1943 werden weite Teile der Hagener Innenstadt rund um Mittelstraße und Elberfelder Straße zerstört, Zweiter Weltkrieg, Bombe, Flieger, Angriff,image description © Stadtarchiv Hagen | Stadtarchiv Hagen
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Das verbliebene Bein kann nicht gerettet werden. Aufgrund der schweren Verletzung muss es amputiert werden. Bis März 1946 muss er noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft ausharren. „Meine Frau, meine Kinder, mein Beruf und die Hilfe der Erndtebrücker Mitbürger haben mir in den vergangenen 40 Jahren mein Schicksal sehr erleichtert. So etwas darf nie wieder passieren“, machte er 1985 deutlich.

Am 10. März 2023 werden erneut in Erndtebrück die Kirchenglocken läuten – eine Mahnung, die damals wie heute eine besondere Bedeutung hat.