Wittgenstein. Wie aus Flachs weißer Leinen wird – das wusste man in Wittgenstein vor 100 Jahren. Nicht nur landwirtschaftlich war die Herstellung wichtig.
Wie wird aus einer zarten Pflanze eigentlich ein Laken oder ein Kleidungsstück? Vor hundert Jahren wusste man das in Wittgenstein noch ganz genau und es gehörte nicht nur zum Handwerk, sondern auch zum sozialen Miteinander. Heute ist das Wissen darum – zusammen mit der Verarbeitung von Flachs zu Leinen – in Wittgenstein so gut wie verschwunden. In alten Schriften und Erinnerungen jedoch ist genau festgehalten worden, was dieses alte Handwerk – das die ganze Dorfgemeinschaft mit eingebunden hat – ausgemacht hat.
Wie viele Arbeitsschritte in kompletter Handarbeit – und vor allem wie viel Zeit – zwischen dem frisch geernteten Flachs und dem fertigen Stück Stoff liegen, zeigt ein Bericht aus dem Jahr 1929 in der Veröffentlichung „Das schöne Wittgenstein“ – digital gerettet vom Erndtebrücker Heimatverein und auf dessen Homepage im Original zu finden. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hatte sich bereits das eine oder andere an dem Verfahren geändert.
Die Aussaat und Ernte
Los ging es aber ganz von vorne mit der Aussaat in der vorbereiteten Erde: „Eilt der hundertste Tag des neuen Jahres herbei, dann schickt sich der Bauersmann an, den Leinsamen der Mutter Erde zu übergeben“, heißt es in dem Bericht. Glich der aufgegangene Lein dann einem dichten Teppich, konnte sich der Bauer auf eine ertragreiche Ernte freuen.
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„Sobald die junge Pflanze etwa sechs bis zehn Zentimeter hoch geworden ist, muss das Unkraut ausgejätet werden, weil es sonst den Flachs überwuchert. Ein ermüdendes und langweiliges Stückchen Arbeit“, konstatiert der Bericht. Diese Arbeit fiel demnach vor allem den Frauen und Mädchen zu, die „tagelang auf den Knien in dem Flachse“ herumkrochen, um das Unkraut zu entfernen.
„Wundervoll sieht ein blühendes Flachsfeld aus“, bewundert der Autor des Berichts die Optik – und denkt auch damals schon an die Bienen: „Leider bietet das große Blütenmeer unseren lieben Immen keinen süßen Nektar, denn der Lein ist ein Selbstbestäuber.“
Im Herbst ging es dann an die Ernte. Reif dafür war der Flachs, wenn die Stängel anfingen zu vergilben. „In frohem Wetteifer“ wurden dann von zahlreichen Helfern die Pflanzen ausgerissen.
Die Verarbeitung
Auch nach der Ernte war es noch ein sehr langer Weg von der Pflanze bis zum Garn und schließlich dem Leinen. So ging es nach der Ernte weiter – weiterhin war die gesamte Gemeinschaft involviert: „Man bindet den Flachs in dicke Bündel und fährt diese noch an demselben Abend nach Hause, um ihn zu riffeln“, schreibt der Autor.
Eine Art großer Kamm, ein Meter lang und mit rund 25 Zentimeter langen, spitze Zinken, ist dann Teil der ersten Verarbeitungsschritte. In die Zinken dieses Kamms wurde der Flachs geschlagen und so oft durchgezogen, bis „die Hälmchen frei sind von allen Flachsknoten.“ Danach wurde der Flachs in kleine Bündel gebunden und wieder auf den Wagen geladen.
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Tags darauf kam dieser Flachs in ein kreisrundes, etwa 1,40 Meter tiefes Loch von drei bis vier Metern im Durchmesser. „Hier beschwert [man den Flachs] mit dicken Steinen und lässt nun Wasser darüber laufen; es gib auch ein anderes Verfahren, bei welchem der Flachs sofort auf Wiesen und Acker gebreitet wird und hier vier bis fünf Wochen zur Gärung liegt.“
Sobald der Prozess beendet war, kam der Flachs auf eine Wiese zum Trocknen. „Hat er so zwei bis drei Wochen gelegen, dann wird er aufgestellt und nach einigen Tagen zusammengebunden und nach Hause in die Scheune gebracht.“ Damit war Teil eins im ersten Jahr der Verarbeitung abgeschlossen.
„Im nächsten Frühjahr holt der Landmann den Flachs wieder aus der Scheune heraus, breitet ihn auf dem Hofe noch einmal aus und lässt ihn von der Sonne weiter trocknen. Dann wird er sofort an Ort und Stelle mit dem Flegel gedroschen.“
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Dann kam der Flachs auf die sogenannte Flachsbreche, um ihn „mürbe und weich“ zu machen. „Alle holzigen Stängelteile werden auf der Breche in kleine Stücke zerbrochen, um die Fasern frei zu bekommen.“ Wegwerfen der unbrauchbaren Stängelteile war aber keine Option – die wurden zum Weißbinder gebracht, der diese Reste unter Lehm und Mörtel mengte, um beiden Stoffen eine bessere Bindekraft zu geben.
Und immer noch nicht war der Flachs soweit, um gesponnen zu werden. Nach der Breche kam er auf die Schwinge und wurde von den allerletzten Holzteilchen befreit. „Nun ist die Faser so weit, dass sie durch die Rechel gezogen werden kann. Die Faser wird jetzt in einzelne Stränge zerrissen. Die langen Fasern, der eigentliche Flachs, werden dabei von den kurzen getrennt und sind erst jetzt spinnfähig“, berichtet der Autor.
Die Herstellung des Stoffs
„Nun werden die fertigen Fasern des feinen Flachses zu einem Rocken gedreht und auf das Spinnrad gesteckt. Dann schnurren die Räder und fleißige Hände drehen den Faden auf die Spule.“ Und an dieser Stelle erinnert sich der Autor an die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, der bereits einiges im Leben der Menschen verändert hatte: „Vor Zeiten spann die Jugend in den Spinnstuben. Durch den Krieg ist auch diese Sitte eingeschlafen. Heute dreht man den Faden im trauten Heime im Kreise der Lieben.“ Dabei erzählte dann die Mutter ihren Kindern „aus Großvaters Zeiten schöne Geschichten, alte Sagen und Wundermären. Glückliches Kind, das dem Muttermunde in solcher Stunde lauschen darf“, schwelgt der Autor in Erinnerung.
War das Garn fertig gesponnen, wurde es gekocht und mit kaltem Wasser ausgespült „um es von der Lauge zu befreien, die beim Kochen dem Garn zugesetzt wird.“ Nachdem das Garn getrocknet war, wanderte es auf den Haspel, der es in kleine Gebinde aufteilte. „Nun wird er wieder aufgespult. Dann tritt es den letzten Gang an“, beschreibt der Autor den Weg des Garns zum Webstuhl.
„Als fertige Leinwand verlässt das Garn den Webstuhl.“ Aber auch dann war die Arbeit noch nicht abgeschlossen: „Im kommenden Frühjahr wandert die Leinwand für kurze Zeit auf die Bleiche. Dort wird sie durch fleißiges Gießen im heißen Sonnenschein zum schneeweißen Leinen, zum Stolz der Hausfrau.“