Michaela Kleemann wagt sich sieben Jahre nach einem schweren Unfall wieder aufs Motorrad. Und das ist eine Spezialanfertigung.
Beddelhausen. Die Jacke anzuziehen und einfach ins Blaue zu fahren – viele Motorradbesitzer leben genau für diesen Moment. Selbstverständlich ist dies allerdings keineswegs, schon gar nicht für Michaela Klemann aus Beddelhausen.
Aber im April geht es zurück auf den Asphalt, der ihr ein Stück ihres Lebensgefühls zurückgibt. Nach einem schweren Motorradunfall vor sieben Jahren und einer darauffolgenden Unterschenkelamputation beweist sich die 48-jährige gemeinsam mit ihrer Tochter India als Kämpfernatur.
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„Wir wollten eine kleine Runde drehen“, erinnert sie sich an den Nachmittag mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten im April 2015. In Biedenkopf wird sie beim Linksabbiegen von einer Frau überholt und ab dem Zeitpunkt ist die Erinnerung ein schwarzer Vorhang. Zwischen unzähligen Schläuchen wird sie wach in einem Marburger Krankenhaus, Medikamente nehmen ihr die Wahrnehmung. „Ich lebe noch, mach dir keine Sorgen“, waren die wenigen Worte, die sie ihrer Tochter auf der Intensivstation zugeflüstert hat. Der spürbare Ausnahmezustand hielt an. Höchstleistungen im OP-Saal.
Schlimme Unfallfolgen
Die Lunge zerstochen, drei gebrochene Rippen, ein gebrochenes Schulterblatt – am schlimmsten trifft es beim Unfall jedoch ihr linkes Bein. „Ich wurde 12 Tage lang jeden Tag operiert, Verpflanzungen wurden durchgeführt. Die Ärzte haben alles gegeben, um das Bein zu retten“. Sie sieht an einem Freitagabend eine auftretende schwarze Verfärbung des Gewebes, spricht sofort mit ihren Ärzten und handelt mehr als rational, um ihr eigenes Leben vor einer lebensbedrohlichen Blutvergiftung zu schützen. Am Samstagmorgen folgte direkt die Operation, die ihr Leben veränderte. „Ab dem Moment verspürte ich keine starken Schmerzen mehr, mir ist ein Stein vom Herzen gefallen“, erinnert sich Michaela Klemann an die Momente nach der Amputation. Ohne das linke Bein beginnt nun der Kampf zurück ins Leben. „Sie sind schon hart im Nehmen“, kommentiert ein Arzt ihre Einstellung zu selbigem. Seelenschmerz ja – aber Aufgeben kam für sie niemals in Frage.
Tochter ist eine Stütze
Trotz der belastenden Zeit im Krankenhaus war die enge Verbindung zu ihrer Tochter die treibende Kraft. Nach zwei Monaten Klinikaufenthalt folgten zwei Monate Rehabilitation in der ehemaligen Bad Berleburger Baumrainklinik. „In den Kliniken haben mich nur Menschen begleitet, die für mich alles gegeben haben. Noch heute pflege ich guten Kontakt zum ehemaligen Chefarzt der Baumrainklinik Dr. Grünther, eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet“, berichtet Michaela Klemann. Auch beim Bad Berleburger Sanitätshaus Kienzle fühlte sie sich bestens aufgehoben. Es folgte an die Klinikaufenthalte eine Zeit, in der sie das Leben neu erlernen musste. India ist diesen Weg Seite an Seite mit ihrer Mutter gegangen: „Ich habe sie in der Zeit immer unterstützt und war jederzeit für sie da“. Die Erinnerungen lassen Tränen fließen, doch diese versiegen durch die gegenseitige Dankbarkeit und die viele gemeinsame Zeit schnell. Wieder zurück in ihrer Wohnung stellten sich viele neue Aufgaben. „Was für andere normal ist, war für mich eine Herausforderung“.
Zweite erste Schritte
Die erste Zeit nach dem Unfall verbringt sie im Rollstuhl, vieles war umständlicher und schwieriger – etwa die Hausarbeit, vom Laufen ganz zu schweigen. Ein privater Ganglehrer bringt ihr zum zweiten Mal im Leben das Laufen bei, zunächst mit mechanischen Prothesen. Kurze Schrittfolgen werden nach und nach immer längere, auch wenn sich diese manchmal als ungewohnt steinig herausstellen: „Natürlich hast Du mal schlechte Tage. Aber die hatte ich auch als ‚Zweibeiner‘. Was zählt, ist das der Kopf mitspielt“. Insgesamt anderthalb Jahre ist die gelernte Verkäuferin arbeitsunfähig. „Ich muss raus, ich muss wieder unter die Menschen“, so ihre Einstellung, „ich mache total gerne meinen Beruf, die Gespräche mit Kollegen haben mir gefehlt und zuhause hat man einfach kaum etwas mitbekommen“. Glücklich und etwas stolz ist sie auf ihren Arbeitgeber, der trotz körperlicher Einschränkung keinen Moment an ihrem Mut und ihrem Arbeitswillen gezweifelt hat – beispielhaft für die Inklusion. „Ich habe nach nur wenigen Monaten einen festen Vertrag erhalten und das wichtigste: Meine Kollegen und meine Chefin stehen voll und ganz hinter mir“. Dank einer elektrischen Prothese, die auf ihre Körpergröße und ihr Gewicht eingestellt ist und viele Parameter ihres Knies berücksichtigt, ist der Alltag heute ein anderer als kurz nach dem Unfall – vor allem unbeschwerter: „Vor 20 Jahren hätte ich noch einen Holzschaft bekommen“.
„Alles hat seinen Grund“
Regelmäßig besucht sie in Köln Seminare bei dem orthopädietechnischen Hersteller Össur, welcher ihre Prothese angefertigt hat. Es geht dort nicht nur um den Umgang und den Alltag mit der Prothese, bei jedem Seminar lernt sie aufs Neue Menschen kennen, die entweder ein ähnliches Schicksal begleitet oder die Menschen mit Prothesen versorgen. Dabei war Humor oft das Bindeglied zu den Menschen, die sie in den vergangenen sieben Jahren begleitet haben und Michaela Klemann betrachtet stets auch die andere Seite der Medaille: „Alles im Leben hat seinen Grund. Ich bin entschleunigt worden, sehe vieles anders und bin deutlich geerdeter als früher.“ Trotzdem zeigte ihr dieses Schicksal auf, welcher Mensch wirklich bereit ist, diesen Weg mit ihr zu gehen. „Dass ich wieder Mut gefasst habe und damit klarkomme, stellen immer wieder Menschen infrage“, erzählt Michaela Klemann. „Insgesamt habe ich dadurch viel mitgenommen, viel gelernt und mache nun alles, worauf ich Lust und Spaß dran habe“.
Die enge Verbindung zum Motorrad knüpfte die gebürtige Münsterländerin bereits im zarten Alter von 16 Jahren, als sie in den Motorradclub „Ravenhead MC“ einbezogen wurde. Ihren ersten Mann lernte sie dort kennen und machte zügig den Motorradführerschein – eine Liebe zum Zweirad, die trotz des Unfalls bis heute anhält: „Es war damals wie eine Familie, die eine Leidenschaft verbindet. Und sogar nach über 20 Jahren kann man sich auf die Jungs und Mädels von damals verlassen“. Bei einem Spaziergang, wohlgemerkt bei bestem Biker-Wetter am Edersee im letzten Jahr, machte sie eine Entdeckung, die sie hellhörig machte, nicht zuletzt wegen des liebgewonnenen Röhrens der Motoren. Circa 30 Can-Ams sind an ihr vorbeigezogen. „Seit letztem Jahr habe ich mir lange darüber Gedanken gemacht, aber eigentlich keine Sekunde gezögert, ob ich das wage.“ In der vergangenen Woche war es dann die Liebe auf den ersten Blick bei einem Olper Motorradhändler, die Entscheidung war sofort gefallen. Deutlich mehr Fahrsicherheit und Stabilität versichert das Can-Am, was schon bald ihres sein wird. Dank Automatikgetriebe ist das Handicap vergessen und die Straße gehört wieder ihr. „Der Fahrspaß bleibt der gleiche“, freut sich Michaela Klemann. Diese Freude steht auch ihrer Tochter ins Gesicht geschrieben, die sich aufgrund der monatelangen Hilfestellungen für ihre Mutter ganz bewusst entschieden hat, auch beruflich Menschen zu helfen und nun als examinierte Pflegefachkraft überwiegend demenzkranke Menschen betreut.
Im April ist es dann soweit – dann holt „Ela“ ihr Can-Am in Olpe ab: „Ich lasse es alles auf mich zukommen“. Worauf sie sich am meisten freut? „Auf dieses Stück Freiheit!“