Bad Berleburg. Nicole Göbel, Chefärztin in der Vamed Rehaklinik Bad Berleburg, spricht über die Gefahren von Internet und Co. – und wie man sie erkennt.
Der Kick nach dem Klick – für die einen ist es ein Segen, wenn Handy, Laptop und Tablet ausgeschaltet sind, für die anderen ein blanker Horror. Ist das schon eine leichte Form der Internetsucht? Wo verläuft die Grenze zwischen Internet- und Spielsucht? Gibt es eine? Nicole Göbel, Chefärztin des Fachbereichs Psychosomatik, Psychotherapie und psychiatrische Rehabilitation in der Vamed Rehaklinik Bad Berleburg, darüber, ab wann man von einer Sucht spricht und wie man sie erkennt.
Frau Göbel, wann beginnt die Sucht nach dem Internet oder den Computerspielen?
Steckbrief: Nicole Göbel
Nicole Göbel ist 41 Jahre alt , verheiratet und kommt gebürtig aus Feudingen. „Ich bin in Feudingen geboren und groß geworden – meine Familie, meine Freunde und mein Lebensmittelpunkt befinden sich hier“, sagt die Erndtebrückerin. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und war zuletzt acht Jahre lang als Leitende Ärztin der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie sowie als Leiterin der Klinikambulanz in der Klinik Wittgenstein beschäftigt. Zuvor arbeitete die 41-Jährige als Fachärztin im Kreisklinikum in Siegen – Medizin studierte sie in Aachen und Marburg.
Bereits die erste Frage ist nicht einfach zu beantworten. Häufig ist der Übergang zwischen Sucht und einer problematischen Nutzung oder einem problematischen Gebrauch schwer voneinander abzugrenzen. Ein wichtiges Indiz ist jedoch, wenn das ständige Online-Sein dazu führt, dass andere soziale Aktivitäten, Verpflichtungen oder auch soziale Kontakte im realen Leben zugunsten der virtuellen Welt vernachlässigt werden.
Was sind die Anzeichen für eine Sucht?
Unter einer Internetsucht versteht man aus suchtmedizinischer Sicht eine nicht-stoffgebundene Sucht. Das bedeutet, dass es Parallelen zu stoffgebundenen Süchten wie beispielsweise einer Alkohol- oder Drogensucht (beschränkt auf eine Substanz) gibt. Bei jeglicher Sucht spielen biochemische Veränderungen im Gehirn eine wichtige Rolle. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Botenstoff Dopamin zu, der vorwiegend im Belohnungszentrums des Gehirns eine große Rolle spielt. Man kann sich das so vorstellen, dass beim online Spielen eine erhöhte Ausschüttung von Dopamin im Gehirn erfolgt. Das wirkt wie eine Belohnung für den Spieler und löst Glücksgefühle aus. Dabei werden bestimmte Hirnregionen, die für Belohnungen verantwortlich sind, überdurchschnittlich stark aktiviert. Dies führt dazu, dass das Verhalten immer häufiger wiederholt wird, damit sich dieses Glücksgefühlt einstellt - andere Aktivitäten, die weniger belohnend wirken, werden dagegen vernachlässig. Da es aktuell keine einheitlichen Kriterien für die Diagnose der Internetsucht gibt, orientiert man sich an den Abhängigkeitskriterien von Suchterkrankungen. Zu diesen gehört beispielsweise ein starkes Verlangen nach, sowie eine ständige Beschäftigung mit dem Internet oder auch Entzugserscheinungen, wenn der Internetzugang nicht möglich ist. Auch gibt es häufig erfolglose Versuche, die Internetnutzung zu kontrollieren. Der Betroffene verliert das Interesse an allen anderen Hobbys. Häufig werden auch Familienmitglieder oder Partner hinsichtlich des Ausmaßes der Internetnutzung belogen. Ein weiteres Merkmal kann sein, dass die Nutzung des Internets fortgesetzt wird, obwohl negative Konsequenzen bestehen bzw. bekannt sind. Beispielsweise werden wichtige Beziehungen oder auch der Arbeitsplatz aufgrund des Internetgebrauchs gefährdet.
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Welche Therapieansätze werden hier meist verwendet?
Obwohl die Internetsucht eine relativ „neue“ Sucht ist, gibt es schon konkrete Therapieansätze und Behandlungsmöglichkeiten: Insbesondere sollten sich Betroffene an eine Suchtberatungsstelle, einen Psychotherapeuten, eine psychiatrische Ambulanz oder an eine suchtspezialisierte Klinik wenden. Die Behandlung kann sowohl ambulant, tagesklinisch als auch stationär in einer Klinik erfolgen. Als besonders hilfreich haben sich die kognitive Verhaltenstherapie und Selbsthilfeprogramme erwiesen. Insbesondere durch die Kombination aus Einzel- und Gruppenbehandlungen kann ein guter Behandlungserfolg erzielt werden, da es einerseits darum geht, die individuellen, suchtauslösenden Faktoren zu identifizieren und diese zu verstehen, sowie in der Gruppenbehandlung andererseits mit Betroffenen in den Austausch zu treten und zu erkennen: Ich stehe mit meiner Erkrankung nicht alleine da!
Welche Rolle spielen mobile Games?
Den Nutzen von mobilen Games halte ich für besonders bedenkenswert, da man eben 24 Stunden lang, somit permanent, Zugang zur virtuellen Welt hat. Es ist gerade für junge Menschen sehr verlockend, in verschiedensten sozialen Situationen, beispielsweise bei der Fahrt mit dem Zug nach der Schule nach Hause, mit dem Handy zu spielen anstatt sich mit den Klassenkameraden auszutauschen. Auch beobachte ich im Klinikalltag, dass in Gruppen- oder Gemeinschaftsräumen häufig am Handy gespielt wird, anstatt mit den Mitpatienten gemeinsam Karten oder Brettspiele zu spielen oder Unterhaltungen zu führen. Daher glaube ich, dass gerade dem mobilen Gaming eine besondere Rolle im Rahmen der sozialen Isolation zukommt.
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Sind eher Erwachsene oder Kinder davon betroffen?
Insbesondere Kinder und Jugendliche sind betroffen bzw. gefährdet. In Deutschland leiden etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung unter einer Online-Abhängigkeit. Davon besteht bei fast fünf Prozent eine problematische Internetnutzung. Bei jungen Menschen ist diese Zahl deutlich höher. In dieser Altersgruppe liegt die problematische Internetnutzung bei 13 Prozent – also fast dreimal so hoch wie bei Erwachsenen! Im erwachsenen Alter ist es so, dass Frauen und Männer gleich häufig betroffen sind, jedoch Frauen eher dazu neigen, die sozialen Medien wie Facebook, Instagram oder ähnliches exzessiv zu nutzen. Bei Männer dagegen steht das Gaming ganz oben.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien dabei?
Die sozialen Medien spielen eine große Rolle im Hinblick auf den Konsum von Medien. Ich glaube jedoch auch, dass die Corona-Pandemie-Lage in einem engen Zusammenhang mit zukünftigen Suchtentwicklungen oder einer problematischen Internetnutzung steht. Wer kennt es beispielsweise aus den sozialen Medien nicht, dass man Werbung angezeigt bekommt, Empfehlungen für Literatur, Filme, Spiele und so weiter, die zum Kaufen animieren oder dass man durch einen einfachen Klick direkt auf eine neue Website weitergeleitet wird? Wir sollten bei der Nutzung des Internets nicht vergessen, auch immer ein bisschen auf der Hut zu sein, da verschiedene Website-Betreiber ein wirtschaftliches Interesse daran haben, uns möglichst lange auf ihren Seiten zu halten und dementsprechend vermeintlich interessanten Content für uns bereitstellen.
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Gibt es Tipps, nicht in die Sucht zu rutschen?
Ich halte es für sehr wichtig, sich sein eigenes Online-Verhalten bewusst zu machen, dieses vielleicht auch mal im Alltag zu beobachten. Der nächste Schritt könnte sein, auf die Gestaltung des eigenen Tagesablaufes zu achten, indem Freizeit und soziale Kontakte mit Aktivitäten ohne Internet geplant werden. Auch kann es sinnvoll sein, für sich selbst die Dauer der Internetnutzung festzulegen. Eine weitere Empfehlung ist es, nicht mehr am späten Abend vor dem Zubettgehen das Smartphone oder den PC zu nutzen, da es Studien darüber gibt, die belegen, dass sich dies negativ auf den Schlaf-Wach-Rhythmus auswirkt. Auch halte ich einen Austausch mit Familienmitgliedern oder guten Freunden über diese Problematik für sehr zielführend. Gemeinsam kann man problematische Verhaltensweisen oft besser aufdecken, überlegen, wie geeignete Lösungen aussehen und Betroffene unterstützt werden können.
Wie ist es in Wittgenstein? Sehen Sie hier bei vielen ein Suchtpotential oder ist das hier in der Region noch verhalten?
Wie es ganz konkret in Wittgenstein mit der Internetsucht aussieht, kann ich nur mutmaßen. Ich denke jedoch, dass unsere Region einige protektive Faktoren bietet. Damit meine ich insbesondere den sozialen Zusammenhalt in Wittgenstein sowie die gute Vernetzung in den Dörfern und den kleinen Städten. Ebenso gibt es bei uns vielfältige alternative Freizeitmöglichkeiten im Freien oder in den Vereinen, die ich im Vergleich zu den Angeboten in den Großstädten als abwechslungsreicher erlebe und durch die eine starke soziale Einbindung in eine Gemeinschaft stattfindet. Wir Wittgensteiner haben doch jeden Tag die Möglichkeit in den Wald zu gehen, Jugendliche können sich mit ihren Freunden treffen, gemeinsam Fahrrad fahren, im Garten spielen. Ich denke, gerade durch die nachbarschaftliche Nähe und das gute Vereinswesen könnte das Suchtpotenzial in unserer Region etwas geringer sein als im bundesdeutschen Durchschnitt.
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Wie reagieren Betroffene auf den Internetentzug?
Es klingt vielleicht etwas komisch, aber es gibt wirklich Symptome eines Internetentzugs. Unabhängig von beispielsweise der Vernachlässigung körperlicher Hygiene oder der persönlichen Versorgung mit Essen und Trinken, führt der unregelmäßige Schlaf-Wach-Rhythmus häufig zu schlechter Laune und Reizbarkeit. Auch fühlen sich Betroffene sehr nervös und niedergeschlagen sowie antriebslos. Ebenso können Aggressivität und maßgebliche Schlafstörungen eine Entzugssymptomatik begleiten.
Wie entsteht eine Internetsucht überhaupt?
Es handelt sich um eine multifaktorielle Genese. Das bedeutet, dass eine Kombination verschiedener Faktoren die Entwicklung einer Internetsucht begünstigt. Belegt ist beispielsweise, dass bestimmte psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, andere Suchterkrankungen oder ADHS eine zusätzliche Internetsucht begünstigen. Auch soziale Ängste oder Persönlichkeitsstörungen stehen häufig im Zusammenhang mit einer Internetsucht und gelten als Begleiterkrankungen, sogenannte Komorbiditäten. Des Weiteren ist es so, dass man beispielsweise im Rahmen von Spielen das Gefühl von Kontrolle und Erfolg erlebt. Diese Erfahrung fehlte im „echten Leben“ in den letzten Monaten aufgrund der Kontaktbeschränkungen häufig. Generell entwickelt sich eine Internetsucht jedoch erstmal aus einem problematischen Nutzungsverhalten – das heißt, es handelt sich um einen schleichenden Prozess, der oft erst spät erfasst oder als problematisch erlebt wird.