Erndtebrück/Afghanistan. Zweimal war Oberleutnant Marc Grass aus Erndtebrück in Afghanistan im Einsatz. Ein Gespräch über Eindrücke, Arbeit und Rückkehr.

Nach 20 Jahren bereitet sich die Bundeswehr auf den Abzug der Soldaten aus Afghanistan vor. Noch in diesem Sommer sollen die letzten von ihnen nach Hause kommen. Tausende von ihnen haben dort ihren Dienst geleistet – 59 deutsche Soldaten sind im Afghanistan-Einsatz ums Leben gekommen. Oberleutnant Marc Grass hatte insgesamt zwei Einsätze in Afghanistan – von Januar bis Juli 2012 und von Oktober 2019 bis Mai 2020.

Zwei unterschiedliche Einsätze, zwei Aufträge und zwei Erlebnisse, über die der 38-jährige Erndtebrücker nun mit der Lokalredaktion gesprochen hat. Wie hat er die Monate dort erlebt? Und was hat sich seitdem für ihn verändert?

In Kunduz

Im April 2011 kam der erste Befehl für den heute 38-Jährigen. Das Ziel: Kunduz. Das war neun Monate vor dem eigentlichen Einsatz. „Wenn man sich für diesen Job entscheidet, dann weiß man, dass dies irgendwann einmal so kommen kann“, sagt er. „Natürlich war es für die Menschen, die mir nahe stehen, nicht so einfach. Da war es wichtig, ein transparentes Bild zu schaffen, was mich dort erwarten wird.“ Die Realität vor Ort aber sah anders aus. „Das ist eine komplett andere Welt dort – sowohl kulturell als auch von den Lebensumständen her. Dort ist alles auf das Minimalste reduziert“, so Oberleutnant Grass. „Es dauert ein paar Wochen, bis man sich dort eingewöhnt hat.“

Das Klima

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Gerade das Klima hatte einiges zu bieten: von zentimeterhohem Schnee bis hin zu 50 Grad plus – trockene, staubige Luft inklusive. „Das war, als würde man einem mit einem Laubbläser entgegenpusten“, erinnert sich Grass noch an seinen ersten Einsatz in Afghanistan. „Die ersten zwei Monate lag dort noch sehr viel Schnee. Damit hatte ich nicht gerechnet und dann war es, als hätte einer den Schalter umgelegt und plötzlich war es tagsüber extrem heiß.“ Und dieser Temperaturwechsel hatte unter anderem auch Folgen für die Wege dort. „In Afghanistan gibt es keine wirkliche Straßenstruktur. Die Wege dort sind selten geteert. Als der Schnee dann geschmolzen war, glichen die Wege einem reinen Schlammpfad.“ Noch heute erinnert er sich an den unangenehmen Geruch.

Und auch sonst erschwerten die heißen Temperaturen den Arbeitsalltag der Soldaten im und außerhalb des Lagers. „Körperliche Fitness war Grundvoraussetzung.“ Das lag nicht zuletzt daran, dass neben der Hitze noch mit Rucksack, Waffe und Co. gut 30 Kilogram als Gewicht obendrauf kamen. „Ich habe es vorher noch nie erlebt, dass ich aus dem Auto gestiegen bin und die Uniform war klitschnass – als wäre man mit ihr duschen gegangen. Selbst wenn man nur ein paar hundert Meter zum Frühstück gegangen ist, hat man bereits das erste Mal geschwitzt.“

Die Arbeit

Neben dem Klima kam noch die mentale Belastung hinzu: „Man stand die ganze Zeit unter Anspannung und bekommt einen ganz anderen Blick für die Umgebung und die Körpersprache der Menschen. Man sitzt die ganze Zeit angespannt in dem geschützten Fahrzeug. Wenn man dann am Abend ins Lager zurück kam und die ganze Anspannung von einem abfiel, war das schon ein besonderes Gefühl.“

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Und wie war das Umfeld dort? „Das kommt immer darauf an, welches Umfeld gemeint ist. Innerhalb der militärischen Umgebung sind die Kontakte schnell geknüpft. Man ist ja aus demselben Grund da. Bei den afghanischen Soldaten gab es viele, die sehr dankbar und wissbegierig waren, aber auch einige, die den Job eigentlich nur machen, damit sie ihre Familie ernähren können.“ Die größte Hürde bei der Zusammenarbeit war die Sprache. „Das meiste lief über Dritte. Das heißt, dass bei der anderen Seite bereits die gefilterte Nachricht ankommt. Es ist nicht wie bei einem Gespräch zwischen zwei Menschen, bei dem man während des Gesprächs erste Reaktionen sieht – es ist eher wie ein Telefonat mit Zeitverzug.“

Grundsätzlich aber – so Oberleutnant Grass – habe in Afghanistan das gesprochene Wort eine ganz andere, bedeutendere Qualität. „Das liegt auch daran, dass es in Afghanistan eine hohe Quote an Analphabeten gibt. Sie sind auf das Gesprochene angewiesen.“

Die Rückkehr

Nach sechs Monaten war es dann soweit: Oberleutnant Grass sitzt im Flieger auf den Weg zurück nach Hause. „Die Vorfreude war riesig. Immerhin wurde der Kontakt während des ersten Einsatzes lediglich über Briefe aufrecht gehalten. Ich wüsste nicht, wann ich zuvor das letzte Mal einen Brief geschrieben hab. Das war schon eine neue Erfahrung.“ In Köln gelandet, habe er alles andere ausgeblendet. „Man sieht nur noch seine Familie und Partnerin dort. Das andere blendet man komplett aus.“ Die gemeinsame Zeit nach seinem Einsatz war intensiver als je zuvor. „Man lernt den anderen noch einmal neu kennen.“

Gleich zweimal war Oberleutnant Marc Grass in Afghanistan. 
Gleich zweimal war Oberleutnant Marc Grass in Afghanistan.  © Privat

Und das aus einem guten Grund. „Kurz vor der Heimreise standen wir mit einer Dose Cola dort, als ein Pfarrer mich fragte, was ich denn im richtigen Leben machen würde“, so Oberleutnant Grass. „Man ist dort wie in einer anderen Welt.“ Und auch der 38-Jährige wertschätzt die Dinge des alltäglichen Lebens seit seinem Einsatz mehr. „Es war ein unglaubliches Gefühl, als ich wieder zuhause war und wann immer ich möchte in den Supermarkt fahren konnte, wo es nicht nur eine Sorte Zahnpaste oder zwei Sorten Duschbad gibt, sondern eine ganze Auswahl. Wenn man morgens dann aufsteht und für sich und seine Partnerin selbst das Frühstück zubereiten kann – mit allem, was man sich wünscht – man sieht vieles plötzlich mit anderen Augen.“ Eine spannende und schöne Zeit für den 38-Jährigen. Erlebnisse wie Extremsituationen aber bleiben von zuhause fern. „Man genießt lieber die schönen Momente.“

Der zweite Einsatz

Den Befehl für den zweiten Einsatz in Afghanistan erhielt Oberleutnant Grass ein Jahr zuvor. Im Oktober 2019 ging es für ihn in das Hauptquartier für den Norden Afghanistans. Dieses Mal blieb er den größten Teil des Einsatzes innerhalb des Lagers. „Das bedeutet aber nicht, dass die Arbeitsbelastung dort geringer war, als im ersten Einsatz.“ Hinzu kam, dass wenige Monate nach seiner Ankunft, auch dort Corona zum Thema wurde. „Auf der einen Seite hatte man nun mit seinen Lieben daheim ein gemeinsames Thema – aber gleichzeitig macht man sich natürlich auch Sorgen, weil men eben nicht für seine Familie im Notfall da sein kann. Da ist es wichtig, ein gut funktionierendes Netzwerk zu haben.“

Bundeswehr erwägt noch früheren Afghanistan-Abzug

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    Und das hatte der 38-Jährige – seien es Kameraden, Freunde oder Familienangehörige. „So wusste ich, dass meine Partnerin und meine kleine Tochter gut versorgt sind.“ Unter anderem per WhatsApp wurde der Kontakt nach Hause aufrecht erhalten. „Das ist schon eine andere Herausforderung gewesen, wenn man plötzlich ein Kind zuhause hat, das vor der Abreise nur ein paar Worte sprechen konnte und dann bei der Rückkehr plötzlich ganze Sätze sprechen kann, wie: Schön, dass du wieder da bist, Papa!“

    Und auch im Lager sorgte Corona teilweise für lange Tage. „Vorher konnte man abends noch zusammen sitzen und grillen oder ins Fitness-Center gehen. Das war aufgrund der Pandemie nicht mehr möglich. Es war eine Herausforderung – unter anderem auch, weil man sich die Baderäume und Küche mit mehreren teilt. Aber der Auftrag musste durchgeführt werden.“ Im Mai 2020 ging es dann für Oberleutnant Grass und einige seiner Kameraden zurück nach Deutschland. Dorthin, wo seine Familie und Freunde ihn bereits erwartet haben.

    NATO-Operation „Resolute Support“

    Die Anschläge vom 11. September 2001 veränderten die Welt und gaben den Anstoß zum Engagement der Weltgemeinschaft in Afghanistan. (Quelle: www.bundeswehr.de, aufgerufen am 26. April 2021)

    Auf der Petersberger Konferenz im Dezember 2001 einigten sich Abordnungen der größten ethnischen Gruppen Afghanistans auf die „Vereinbarung über provisorische Regelungen bis zum Wiederaufbau dauerhafter Regierungsinstitutionen in Afghanistan“.

    Dieses Abkommen wurde Grundlage der VN-Resolution 1386. Der VN-Sicherheitsrat beschloss im selben Monat die Aufstellung der „International Security Assistance Force“(ISAF). Sie begann am 22. Dezember 2001 und war zu Beginn auf Kabul beschränkt.

    Im August 2003 wurde der Einsatz unter NATO-Oberkommando gestellt und von Oktober 2003 an wurde das Operationsgebiet schrittweise auf alle Teile des Landes ausgedehnt. 2011 waren mehr als 120.000 ISAF-Soldaten in Afghanistan eingesetzt.

    Die NATO Operation „Resolute Support“ (RS) zählte zu Beginn des Jahres 2020 noch 16.000 Soldatinnen und Soldaten und wurde von 27 NATO Staaten und 12 Partner-Nationen unterstützt.

    59 deutsche Soldaten sind im Afghanistan-Einsatz ums Leben gekommen; 35 von ihnen fielen durch Feind-Einwirkung.