Bad Berleburg. Die blinde Physiotherapeutin Katrin Spies-Gußmann hat ganz neue Methoden entwickelt, um krabbelnden Nachwuchs auf die Beine zu bringen.

„Hallo Baby! Kontakte für junge Familien“ – so heißt ein Info-Flyer der Stadt Bad Berleburg. Und einer dieser Kontakte führt zur Bad Berleburger Physiotherapeutin Katrin Spies-Gußmann. Neurophysiologische Entwicklungsförderung, aber auch Craniosacrale Therapie und Handling-Kurse für werdende und junge Eltern bietet sie an. Dabei macht die 52-Jährige einiges anders als ihre Kolleginnen und Kollegen vom Fach – denn sie ist blind.

Die Arbeit in der Praxis

Das war sie nicht immer: „Ich hab‘s ja auch sehend gemacht“, erzählt Spies-Gußmann im Gespräch mit unserer Redaktion von ihrer Arbeit in der Praxis. „Als dann die Komplett-Erblindung kam, habe ich gedacht: Kann ich überhaupt weitermachen? Aber da hängt einfach mein Herz dran.“ Nachdem sie ihr ganzes Leben mit Lesen, Schreiben und Eigenmobilität wieder neu habe lernen müssen, habe sie den Test im Beruf gemacht: „So konnte ich sicher sein, dass ich meine kleinen Patienten auch mit diesem Handicap gut betreuen kann.“ Längst laufen Spies-Gußmanns Therapiestunden und Kurse speziell für Kinder.

Die Wahrnehmung

Um die Reaktionen und Reflexe der Kinder zu beobachten, hat Spies-Gußmann neue Wege für sich entwickelt. „Ich habe gelernt, das Gefühlte anders auszuwerten. Und es reicht manchmal, an eine Stelle zu fühlen, um Reaktionen im ganzen Körper zu erkennen. Das hat sich für mich neu entwickelt.“ Früher hat Spies-Gußmann den ganzen Tag gearbeitet – doch das erfordert viel Konzentration. Jene Stunden, die sie heute „am Patienten“ ist, seien „eine intensive, gute Zeit“.

Der gute Kurs-Mix

Craniosacrale Therapie – was versteht man eigentlich darunter? Es sei eine alternativmedizinische Behandlungsform, die sich aus der Osteopathie entwickelt hat, erklärt Spies-Gußmann. Außerdem einer ihrer Schwerpunkte: Reflex-Abbau für Vorschul- und Schulkinder. Und auch weil sie einen speziellen Handling-Kurs für Kleinkinder anbiete, kämen manche Eltern mit ihnen zu ihr.

„Anziehen, ausziehen, hochnehmen, baden“ – um solche Alltagshandgriffe geht es. Und: „Ich erzähle etwas über Baby-Geräte, etwa das Maxi-Cosi.“ Diesen Kindersitz fürs Auto sollten Eltern denn auch „bitte nur im Auto“ verwenden, findet sie – und ihre Kinder ansonsten besser am Körper tragen. Oder: Babywippe? „Stehfrei“ als Hilfe zum Laufenlernen? Was davon ist wirklich sinnvoll für die Entwicklung des Kindes? Was ist beim ersten Schuh wichtig? Sicher: „Hebammen zeigen das auch – aber eben nicht alles“, sagt Spies-Gußmann.

Inzwischen mixt die Therapeutin ihre Kurse fürs Handling, die Babymassage und die Babygymnastik. „Und ein Leitsatz beim Mix der Betreuung ist: Ich passe nicht die Kinder einer Therapie an, sondern umgekehrt“, erklärt Spies-Gußmann. Das sei in Gruppen, aber auch in Einzelstunden möglich.

„Blickpunkt Auge“

Ganz privat engagiert sich Katrin Spies-Gußmann beim Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen in der Bezirksgruppe Wittgenstein und Umgebung. In der regelmäßigen Beratung „Blickpunkt Auge“ bringt sie ihre Erfahrungen als Betroffene wie auch als Therapeutin ein. Erst kürzlich hat sie einen Vortrag zum Thema „Sehbehinderung, Haltungsschäden und frühkindliche Entwicklung“ gehalten. Die Beratung werde vor allem von Menschen mittleren Alters und Senioren genutzt.

Eine Mitgliedschaft im Blinden- und Sehbehindertenverein finanziere übrigens deren breit gefächerte Arbeit, betont Spies-Gußmann – in der Beratung und Unterstützung Betroffener, aber auch als Interessenvertretung etwa für barrierefreie Umbauten von Bushaltestellen. Bei der Umgestaltung des Goetheplatzes in Bad Berleburg zum Beispiel „arbeiten wir gut mit der Stadt zusammen“, freut sich Spies-Gußmann.

Im Presbyterium

Die 52-Jährige ist aber auch in der evangelischen Kirchengemeinde Bad Berleburg aktiv. „Das ist jetzt mein zehntes Jahr im Presbyterium“ sagt Spies-Gußmann. Unter anderem setzt sie sich für eine barrierefreie Kirche ein und macht sie sich gerade stark für heimische Geschäfte, die bestellte Ware auch beim Kunden vorbeibringen – und für mehr barrierefreie Bus- und Bahn-Verbindungen.

Die Unterstützer

Unterstützung bei all ihren Aktivitäten findet Katrin Spies-Gußmann, die in Thüringen geboren ist und lange in Hamburg gelebt hat, vor allem bei ihrem Ehemann. Durch ihn ist sie auch nach Wittgenstein gekommen. „Nur als Team sind wir stark“, ist sie überzeugt. Nicht unerwähnt lässt sie aber auch die beiden ehrenamtlichen Helferinnen in der „Blickpunkt Auge“-Beratung. Außerdem „habe ich einen schönen Freundeskreis, der irgendwie immer da ist, wenn‘s gebraucht wird – gerne aber auch umgekehrt“. Und dann ist da noch Lilly, ausgebildeter Blindenführhund: Mit ihr ist Katrin Spies-Gußmann meist „im Doppelpack unterwegs“ – und hat mit ihr den Weg zum Ziel bisher immer gut gefunden.

Kontakt: Katrin Spies-Gußmann, Tel. 02751/444 727 oder mobil 0151/6110 4667

E-Mail: k.spies-gussmann@blickpunkt-auge.de,

Internet: www.bsv-wittgenstein-umgebung.de/beratung/

Zusatzausbildung als Entwicklungsförderin

Die Bad Berleburger Physiotherapeutin Katrin Spies-Gußmann hat eine komplette Zusatzausbildung als Neurophysiologische Entwicklungsförderin INPP/NET, als internationale Ausbildung.

So macht sie neben der Physiotherapie auch Angebote für Eltern mit Kindern verschiedenen Alters, wie etwa Handling-Kurse für werdende und junge Eltern, Babykurse, Craniosacrale Therapie für Kinder und nicht zuletzt die Förderung bei Entwicklungsverzögerung und Schulschwierigkeiten sowie bei AD(H)S und Asperger.

Drei Fragen an Katrin Spies-Gußmann

Was empfinden Sie in der anhaltenden Corona-Krise, Frau Spies-Gußmann?

„Eine sehr schwierige Frage. Ich sage: Unsere aller Sicherheit ist am wichtigsten – und es macht mich immer traurig, wenn so geschimpft wird über die Politiker. Ich finde: Wir müssen uns bewusst machen, dass es immer schon Pandemien gab – denken Sie an die Cholera-Epidemie 1892 in Hamburg. Nur dass die Leute damals viel schlechtere Bedingungen hatten als wir.

Wie nah sind Sie dem Virus schon gekommen?

Ich habe in meinem Umfeld zwei Personen, die neurologisch betroffen sind von Covid-19, das ist schon erschreckend zu sehen. Wir müssen sehen, dass wir das hygienisch hinkriegen.

Was fehlt?

Wirklich schwierig ist der menschliche Kontakt, der uns allen fehlt. Vielleicht müssen wir da lernen, kreativ zu sein: eine Karte schreiben, telefonieren oder beim Nachbarn klingeln und sagen: Wir nehmen jetzt Ihren Hund mal mit auf unseren Spaziergang. Jede Krise birgt auch eine Chance. Im Moment haben wir so eine kollektive Betroffenheit – das ist so eine Ohnmacht. Ich selbst fühle mich sehr oft einsam – dabei bräuchte ich nur ein fehlendes Organ.“