Bad Berleburg. Nur wer genau hinschaut, sieht, dass die schwarzen Kunststoffteile hinter Sarahs Ohr nicht zu ihrer Brille gehören.
Vor 19 Jahren hätte keiner diese Entwicklung von Sarah Kroh voraussagen können. „Wir haben einfach unheimlich viel Glück gehabt“, sagt Cornelia Kroh. Gemeinsam mit ihrer Tochter Sarah sitzt sie am Esstisch. Beide lachen und flachsen miteinander. Die 19-Jährige ist gerade für das Wochenende aus Münster nach Hause gekommen. Dort macht die junge Frau eine Ausbildung zur Medizinisch Technischen Laborassistentin.
Zurück zuhause gibt es viel zu erzählen. Alles ist so, wie bei den meisten anderen Familien. Nur wer genau hinschaut, sieht, dass die schwarzen Kunststoffteile hinter Sarahs Ohr nicht zu ihrer Brille gehören. Sie trägt Hörhilfen. Ohne ihre Cochlea-Implantate wäre die Bad Berleburgerin vollkommen gehörlos. Sie ist taub, von Geburt an.
Sprachentwicklung und Gleichgewichtssinn betroffen
„Ich habe eine verzögerte Sprachentwicklung gehabt und Probleme mit dem Gleichgewichtssinn“, sagt die 19-Jährige. Im Gespräch mit der jungen Frau merkt man davon gar nichts. Mit zweieinhalb Jahren wurden ihr in der Medizinischen Hochschule Hannover Cochlea-Implantate eingesetzt. So kann der angeborene Defekt im Innenohr überbrückt werden. Die Operation ist der Start in eine fast normale Kindheit und Jugend.
Die Sinneshärchen überbrücken
Sarah Kroh hat einen angebornen Defekt im Innenohr. Die Sinneshärchen in der Schnecke, die auf Schallwellen reagieren, sind nicht oder nicht ausreichend ausgebildet. Das Cochlea-Implantat kann dieses Problem beheben. Es besteht aus zwei Bauteilen: Einem feinen Draht, der in die Schnecke - Cochlea - eingeführt und mit einer, hinter dem Ohr unter der Kopfhaut sitzenden Empfangsspule samt Magnet verbunden wird. Das außenliegende „Hörgerät“ besteht aus einem Mikrofon und einem Gerät, dass den Schall in elektromagnetische Impulse verwandelt. Die werden dann mittels einer Sendespule per Induktion übertragen. Die Sendespule wird dabei durch einen Magneten auf der Empfangsspule unter der Haut gehalten. Der elektrische Impuls wird durch den Draht in die Cochlea und den Hörnerv übertragen.
Ihre Freunde und Bekannten wissen um die Hörhilfen. Sarah geht offensiv damit um: „Am Anfang waren viele sehr schüchtern. Aber ich habe in meiner Schulzeit auch ganz viele Referate über Cochlea-Implantate gehalten.“ Auch deshalb spielt ihre Behinderung im Alltag keine besondere Rolle. Die 19-jährige nimmt es sogar mit Humor. „Das hab’ ja sogar ich verstanden“, gehört zum Repertoire ihrer schlagfertigen Sprüche.
Nur wenn ganz viele Menschen um sie herum sprechen und Störgeräusche hinzukommen, wird es schwieriger. „Aber ich kann ganz gut von den Lippen ablesen“, erläutert Sarah ihre Strategie, mit solchen Situationen umzugehen. Gebärdensprache kann sie nicht. „Die Ärzte haben nach der Implantation davon abgeraten, weil sich Gebärdensprache schneller erlernen ließe als die Sprache“, erklärt Sarah.
Musik spielt eine wichtige Rolle
Für viele Menschen spielt Musik eine wichtige Rolle, auch für Sarah – trotz ihrer Hörbehinderung. „Ich höre sehr gerne und viel Musik. Dafür gibt es extra Kopfhörer“, erklärt Sarah. Auch Sport ist mit Cochlea-Implantaten kein Problem. Nur Schwimmen mag sie nicht so gerne, weil sie dann ohne ihre Hörhilfen auskommen muss. Immerhin abends legt sie die Geräte ab – fürs Schlafen in ihrer WG in Münster ist das ein klarer Vorteil. Nur wenn sie ohne ihre Hilfe sprechen soll, wird es problematischer: „Meine Familie sagt, dass ich mich dann wie ein Wal anhöre, als spräche ich unter Wasser“, schmunzelt die junge Frau.
Auch interessant
„Sarah war so ein pfiffiges Kind, dass wir es zuerst gar nicht gemerkt haben“, erinnert sich ihre Mutter Cornelia Kroh an die ersten Monate mit ihrem dritten Kind. Nur fängt die kleine Sarah nicht an zu sprechen – weil sie nichts hört. „Mit dem heutigen Neugeborenen-Screening wäre das sofort diagnostiziert worden“, weiß die Altenpflegehelferin. Eine Odyssee zu Ärzten und Spezialisten beginnt. „Die erste Diagnose lautete: Unserer Tochter ist hochgradig schwerhörig“, berichtet Cornelia Kroh. Erste Abhilfe sollen Hörgeräte bringen, doch es verbessert sich nichts.
Der Nachbar ist ein guter Ratgeber
Hilfe kommt aus der Nachbarschaft. Der bekannte Gehörlosen-Mediziner Dr. Roland Zeh arbeitet damals als Chefarzt in Bad Berleburg an der Baumrainklinik. Er rät den Krohs zu einer Operation. Sie sollen Cochlea-Implantate implantieren lassen. Nicht eins, sondern auf jeden Fall zwei. „Damals wollte die Krankenkasse aber nur eines bezahlen“, erinnert sich Cornelia Kroh. „Die Sprachentwicklung ist dann schlechter und auch ein Richtungshören funktioniert nur mit zwei Implantaten“, ergänzt Sarah.
Doch mit Hartnäckigkeit und einer erneuten Portion Glück bekommt Sarah gleich zwei Implantate, weil sie an einer Studie zu den Auswirkungen der Sprachentwicklung teilnimmt. Mutter Cornelia Kroh erinnert sich noch genau an den überraschten Gesichtsausdruck der kleinen Sarah, als sie noch in der Klinik in Hannover die ersten Geräusche wahrnimmt. In den ersten Jahren muss sie sechs Mal im Jahr in die Reha, um die Geräte zu justieren. Heute reicht ein Besuch pro Jahr.
Von Anfang an auf zwei Implantaten bestanden zu haben, erweist sich als richtig: „Sarah brauchte später keinen Logopäden. Auf den Rückfahrten aus Hannover sprach sie immer neue Worte“, lacht Mutter Cornelia. Deshalb kann Sarah auch in den normalen Kindergarten, die Grundschule und macht in diesem Jahr am Johannes-Althusius-Gymnasium Bad Berleburg ihr Abitur. In der Grundschule wurde eigens ein Teppich ins Klassenzimmer gelegt, um Störgeräusche zu vermeiden. Auch am Gymnasium wurden für Sarah Klassenräume mit speziellen Schallschutz umgebaut. Ein zusätzliches Hilfsmittel waren auch Mikrofonanlagen mit denen die Stimme der Lehrer oder der Mitschüler direkt auf Sarahs Hörhilfen übertragen werden können.
Schulen unterstützen Sarah
Zusammen mit den Integrationshelfern und Schulleitungen haben die Krohs viele Gespräche geführt. Eine große Hilfe war auch die Schule des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Olpe, die die Familie und auch das Gymnasium beraten haben. „Das wäre sicher nicht an jeder Schule möglich gewesen“, glaubt Cornelia Kroh.
Der Erfolg zeigt sich in einem sehr ordentlichen Abitur. Damit kann sich Sarah Kroh auch einen ganz normalen Berufswunsch erfüllen. Ursprünglich wollte sie „Pathologin oder Forensikerin“ werden. Jetzt lernt sie Medizinisch Technische Laborassistentin und fühlt sich dabei sehr wohl. Ohne die Hartnäckigkeit ihrer Eltern und die Hilfe des damaligen Nachbarn und Experten Dr. Roland Zeh wäre diese Lebensgeschichte wohl anders verlaufen.