Wittgenstein. . Initiative „Wittgenstein im Wandel“: Bürger verlassen die behagliche Komfortzone – und entdecken dafür ganz aktiv ihre Handlungsspielräume wieder
„Wittgenstein im Wandel“ – so heißt eine Bürger-Initiative, die seit April 2018 aktiv ist. Über ihre Ziele spricht im Interview mit unserer Zeitung Frank Oldeleer aus Röspe, einer der Mitbegründer.
In dem Dokumentarfilm „Tomorrow“, den die VHS jetzt gemeinsam mit Ihrer Initiative in Erndtebrück gezeigt hat, geht es um „Projekte und Initiativen, die alternative ökologische, wirtschaftliche und demokratische Ideen verfolgen“. Ist das auch der Ansatz Ihrer Initiative?
Frank Oldeleer: Genau das ist in der Tat auch unser Ansatz: Ausgehend von der Überlegung, dass der extraktivistische Kapitalismus unserer Gesellschaft uns zwar einen enormen Zuwachs an Wohlstand, bürgerlichen Freiheiten und gesundheitlichen Standards gebracht hat, dies jedoch auf Kosten der restlichen Weltbevölkerung erfolgte und seit einiger Zeit auch auf Kosten unserer Kinder, Enkel und der weiteren nachfolgenden Generationen läuft, erscheint mir und vielen anderen die Notwendigkeit, nach Alternativen Ausschau zu halten und diese auszuprobieren, dringend geboten. So heißt es immer wieder, dass nur industrielle Landwirtschaft oder gar Gentechnik die zukünftige Nahrungsversorgung sicherstellen können; dabei kann industrielle Landwirtschaft gar nicht produzieren ohne zugleich die Böden der bewirtschafteten Felder zu zerstören.
Gibt es dazu keine Alternativen?
Doch. In Frankreich gibt es eine Farm, Bec Hellouin, auf der auf 1000 Quadratmetern eine Produktivität erzielt wird, für die man in der industriellen Landwirtschaft einen Hektar bräuchte; und das vollständig, ohne einen Tropfen Erdöl aufzuwenden! Da fragt man sich doch, warum es von diesen Projekten nicht längst schon mehr gibt, wo wir doch alle eigentlich wissen, dass unser gesellschaftliches System an seine Grenzen stößt.
War Ihre Unterschriften-Aktion zum Thema „Müll vermeiden“ nur der Anfang? Was haben Sie noch an Ideen „auf dem Schirm“ – außer vielleicht die angekündigte große Müllsammelaktion gemeinsam mit der Gemeinde Erndtebrück im Frühjahr oder die Sammelaktion vergangenen September in Bad Laasphe?
Das Projekt „Müll sammeln nützt nix“ war relativ leicht zu realisieren und ermöglichte uns einen schnellen Start als Gruppe. Denn alle Beteiligten waren sich einig darin, nicht nur reden, sondern auch handeln zu wollen. Perspektivisch kann es aber nicht darum gehen, ein bisschen Müll einzusparen und sich dann entspannt zurückzulehnen. Quasi als Weiterführung des „Müll sammeln nützt nix“-Projektes haben wir eine Arbeitsgruppe zum Thema „Zero Waste“ gebildet.
Zero Waste ist eine Lebensweise, welche die Minimierung von Verschwendung zum Ziel hat. Da der erste Handlungsschritt von Zero Waste das Ablehnen von Überflüssigem ist, ist das schon ein interessanterer Ansatz – weil man so zwingend mit der Frage konfrontiert wird, was man eigentlich wirklich für ein gutes Leben benötigt. Und die meisten Menschen werden mir wohl zustimmen, dass die Antwort auf diese Frage im Immateriellen liegt, zum Beispiel Liebe, Freundschaft oder Zeit mit der Familie verbringen.
Geht es der Initiative auch um andere Umwelt-Themen als Müll?
Andere Themen, die uns wichtig sind: Mobilität und Permakultur. Hier im ländlichen Raum ist das Auto schon ein wichtiges Transportmittel, aber das muss es ja gar nicht sein. Eine Stärkung des öffentlichen Raumes für Fußgänger und Fahrradfahrer sowie ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs würde vielleicht im Übergang etwas mehr kosten, aber der mittel- und langfristige Benefit für die Region wäre immens! Leider ist das Auto aber oftmals nicht nur Transportmittel, sondern zugleich auch Status- und Kompensationssymbol – und da ist natürlich Widerstand vorprogrammiert, über Alternativen auch nur nachzudenken.
In Wittgenstein leben derzeit rund 40.000 Menschen. Sind 280 Unterschriften da viel oder im Grunde noch viel zu wenig?
Die 280 Unterschriften sind die ungefähre Gesamtzahl. Natürlich ist die Menge im Vergleich zu 40.000 verschwindend gering, andererseits haben wir insgesamt auch nur etwa sechs Stunden gesammelt. So gesehen finden wir das Ergebnis ziemlich gut: über 40 Unterschriften pro Stunde, also etwas weniger als eine Unterschrift pro Minute.
In Essen aufgewachsen
Frank Oldeleer (43), einer der Mitbegründer der Initiative „Wittgenstein im Wandel“, ist in Papenburg/Ems geboren und in Essen aufgewachsen.
Nach dem Abitur begann er ein Lehramtsstudium für Deutsch und Philosophie. Heute gehört Oldeleer zum Lehrer-Kollegium des Städtischen Gymnasiums in Bad Laasphe.
Der 43-Jährige ist verheiratet und hat vier Kinder. Sein Hobby: Lesen. Und sonst? Engagiert er sich natürlich für die Initiative sowie die „Projektgruppe Futurum“, seine AG an der Schule.
Wie ist insgesamt die Resonanz auf Ihre Initiative in der Öffentlichkeit?
Die Resonanz auf unsere Aktionen war dabei durchweg positiv, wir haben schon viel Zuspruch erfahren. Die Menschen wünschen sich, so unser Eindruck, durchaus von Politik und Wirtschaft, deutlich mehr zur Müllvermeidung beizutragen – und gerade ältere Menschen freuen sich, dass frühere soziale Praktiken, zum Beispiel der Einkaufskorb oder die Stofftasche wieder in Mode kommen.
„Wittgenstein im Wandel“ – das klingt so ein bisschen wie „Labor Wittgenstein Wandel“ oder „Labor der Leader-Region Wittgenstein“, also bereits existierende Projekte. Sehen Sie sich da als Ergänzung? Oder eher als Kontrast-Programm?
Eigentlich soll „Wittgenstein im Wandel“ weder als Ergänzung noch als Kontrast dastehen. Die genannten Projekte sind ja jeweils Top-Down-Maßnahmen mit mehr oder weniger demokratischem Anstrich. Uns geht es dagegen darum, bürgerliche Handlungsspielräume wiederzuentdecken und zurückzuerobern. Eben die behagliche Komfortzone zu verlassen und wieder aktiv tätig zu werden.
Haben Sie dazu ein Beispiel?
Einer meiner Lieblingsgedanken in diesem Kontext ist die Verwendung des Wortes „bequem“: In meiner Jugend war „bequem“ total negativ konnotiert, weil es „faul“ bedeutete; heute finden wir es alle gut, faul zu sein. Problematisch daran ist, wie schon gesagt, dass wir andere für unsere Faulheit bezahlen lassen: den Rest der Welt jetzt schon und unsere Kinder demnächst.
Und damit bin ich nicht einverstanden, also suche ich nach Möglichkeiten, mein Nicht-einverstanden-Sein auszudrücken und vor allem zu leben. Und so schließt sich der Kreis zur Ausgangsfrage: „Wittgenstein im Wandel“ ist eine Graswurzel-Bewegung, also eine Bottom-Up-Initiative, und agiert damit auf einer anderen Ebene und mit anderen Zielen als die oben genannten Projekte.
Was bringt der geplante „Umwelt-Stammtisch“ in Erndtebrück? Ist so etwas auch für Bad Laasphe oder Bad Berleburg angedacht?
Was der geplante „Umwelt-Stammtisch“ in Erndtebrück bringen wird, muss sich zeigen. Im besten Fall entsteht viel Entschlossenheit, Gemeinschaft und Handlungsbereitschaft, im schlechtesten Fall zerfasern viele gute Ideen in den üblichen Bedenkenträgereien. Das bleibt abzuwarten.
Für Ihre Initiative ist in der Gemeindebücherei Erndtebrück ein eigenes Regal reserviert. Wie kam das zustande?
Wir haben die Leiterin der Gemeindebücherei Erndtebrück, Janet Doernbach-Lueks, freundlich gefragt – und sie war so nett und hilfsbereit, uns das Regal zur Verfügung zu stellen. Der Gedanke dahinter war, dass die beiden derzeit dort zur Ausleihe verfügbaren Bücher „Selbst denken“ von Harald Welzer und „Zero Waste“ von Bea Johnson von uns, – in diesem Fall meiner Frau und mir – als so wichtig angesehen werden, dass sie von möglichst vielen Menschen gelesen werden sollten. So haben wir diese beiden Exemplare der Gemeindebücherei gespendet.
Wie ist die Initiative im April 2018 überhaupt entstanden?
Die Initiative ist bei einem Vortrag meiner Frau Friederike im Bioladen „Naturale“ von Silvia Dickel in Bad Berleburg entstanden. Bei dem Vortrag ging es um die aktuellen Probleme unserer Welt wie Klimawandel, Peak Oil, Artensterben oder die daraus resultierenden Flüchtlingsströme – und eine positive Zukunftsvision. Danach haben wir uns immer wieder getroffen – und zum Beispiel die Aktion „Müll sammeln nützt nix“ ins Leben gerufen.
Und deren Ziel ist es, „den Klimawandel vor Ort bekämpfen“, wie es im Untertitel heißt? Mit welchen Mitteln?
Ziel der Initiative ist, wie schon gesagt, das Suchen und Ausprobieren von Handlungsspielräumen auf zivilgesellschaftlicher Ebene – also ausdrücklich keine parteipolitische Alternative zu sein oder ein wie auch immer gearteter verlängerter Arm irgendeiner Partei. In diesem Sinne sehe ich „Wittgenstein im Wandel“ als apolitisch, im etymologisch-wörtlichen Sinne dagegen als total politisch!
Im Kalender der Initiative stehen immer wieder „Treffen der AG Permakultur“. Was passiert da?
Die AG „Permakultur“ sucht nach Möglichkeiten, Permakultur im eigenen Umfeld umzusetzen – gleich, ob im eigenen Garten, auf dem Balkon oder nur auf der Fensterbank.
Wie kommt man wie Sie als Lehrer für Deutsch und Philosophie zu solch einer Initiative? Oder ist die Familie Oldeleer da nicht auch so ein bisschen deren Keimzelle?
Eigentlich muss die Frage lauten, warum so viele NICHT zu solch einer Initiative kommen. Machen die sich alle keine Gedanken um die Zukunft ihrer Kinder? Sind die denen scheißegal? Oder hoffen die auf Jesus, die gute Fee, Elvis oder unsere Politiker? Vor allem ist meine Familie die Keimzelle dieser Initiative: Ohne meine Frau und meine Kinder würde ich mich nicht in diesem Maße öffentlich engagieren.
Mit Frank Oldeleer sprach Eberhard Demtröder.
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