Warstein. . Wie kann man Jugendliche dafür sensibilisieren, im Straßenverkehr nicht zu schnell zu fahren und sich nicht betrunken ans Steuer zu setzen? Das Projekt “Crash Kurs NRW“ geht dabei neue Wege -und die sind ziemlich heftig.

Das Kreuz steht die ganze Zeit auf der Bühne. Schlicht, aus einfachem Holz gefertigt, bildet es den Mittelpunkt der Veranstaltung, kein Blick kann daran vorbei gehen. Es sind verunsicherte, neugierige und auch vermeintlich selbstbewusste Blicke, die das Kreuz an diesem Morgen im Forum des Gymnasium treffen.

"Zeitgemäße Unfallprävention" oder "Emotionen pur"

Sie sind 16, 17 oder 18 Jahre alt, die Schülerinnen und Schüler, deren Blicke das Kreuz streifen und die noch nicht so wirklich wissen, was sie jetzt gleich erwartet. „Crash Kurs NRW“ leuchtet in roten Buchstaben auf einem Plakat neben der Bühne auf, es zeigt eine einsame Straße. „Zeitgemäße Unfallprävention“ nennt die Nordrhein-westfälische Polizei das, was die Warsteiner Schüler an diesem Morgen erleben. Im Verlauf der Veranstaltung wird sich zeigen, dass hinter diesem sperrigen Begriff ganz viele Emotionen stecken, die oftmals nicht zu kontrollieren sind.

Bilder, die immer wieder in Zeitungen auftauchen

Rainer Walter geht als Erster an dem Holzkreuz vorbei auf die Bühne. „Ich bin Polizist in Lippstadt, ich habe zwei Kinder und ich bin heute hier, um euch von einem Unfall zu erzählen, zu dem ich gerufen wurde.“ Ein Auto, dass von der Straße abkam, weil der Fahrer zu schnell unterwegs war – nur eine von vielen Situationen, die Walter immer häufiger erlebt. Hinter ihm auf einer Leinwand sind Fotos vom Unfall zu sehen. Die Bilder zeigen das, was die Schüler aus der Zeitung kennen – nichts Besonderes, einige Schüler spielen gelangweilt mit ihren Handys.

Der Schock ist zu groß, um zu klatschen

„Solche Situationen sind schwer zu verarbeiten, wenn dort ein junger Mensch in seinem Fahrzeug eingeklemmt ist“, unterbricht Rainer Walters Stimme die unruhige Stille, „manchmal schreien die Menschen, manche sind völlig reglos.“ Seine Stimme stockt. Im Publikum sind die Handys unwichtig geworden. „Ich wünsche euch und uns, dass wir euch niemals aus einem Auto befreien müssen. Danke.“ Rainer Walter verlässt die Bühne, am Holzkreuz vorbei. Seine Worte hallen nach, keiner klatscht, zu groß scheint der Schock.

Schonungslos werden alle Details geschildert

Doch es kommt noch härter. Dirk Behrens nimmt den Weg am Kreuz vorbei, stellt sich vor: „Ich bin Rettungssanitäter und ich will euch von einem Unfall erzählen, den ich 2006 erlebt habe.“ Die ersten Bilder tauchen hinter ihm auf, sie zeigen ein Auto vor einem Baum – Erklärungen, was passiert ist, erübrigen sich. Dirk Behrens gibt sie trotzdem, schonungslos: „Hier ist ein 16-Jähriger gestorben, er lebte noch, als wir ihn aus dem Auto holten, sein Kopf war verletzt, es trat nicht nur Blut aus“ – Die Worte hallen unerbittlich durch den Raum, man hört mehrere Schüler scharf die Luft einatmen, eine junge Frau verlässt den Raum, ihr Gesicht spiegelt Fassungslosigkeit und Verzweiflung. Dirk Behrens redet weiter: „Wir haben ihn mehrfach wiederbelebt, doch es hat nicht geholfen, wir haben ihn verloren.“

"Denkt an eure Eltern"

Das Entsetzen ist greifbar unter den Schülern. Auch der Rettungssanitäter formuliert einen Wunsch an sein Publikum: „Glaubt mir: Für eure Eltern ist es schöner, euch morgens mit einem Lächeln am Frühstückstisch zu sehen, als wenn wir vor der Tür stehen und ihnen die Nachricht überbringen müssen, dass ihr tot seid. Denkt daran. Danke.“

Willi Helmig fällt es schwer. Der Polizist ist am Holzkreuz vorbeigegangen, seine Geschichte erzählt er mit ruhiger, konzentrierter Stimme, die oft stockt, als könne er es selbst nicht fassen, was er erlebt hat. „Da ragte ein Arm aus dem Wagen, soviel konnten wir erkennen.“ Der Wagen oder das, was von ihm übrig war, taucht in diesem Moment auf dem Foto hinter Willi Helmig auf. Mehrere Schülerinnen schlagen entsetzt die Hände vors Gesicht. „Wir haben einen jungen Mann herausgezogen und dann entdeckt, dass da noch jemand drin ist“, erzählt der Polizist leise. Man versteht ihn bis in die letzte Reihe, so still ist es.

Bitte an die jungen Menschen im Publikum

„Es war eine junge Frau. Wie dieses junge Paar da tot nebeneinander auf dem Feld lag – diesen Anblick kann ich kaum vergessen.“ Wieder verlassen einige Schüler den Raum, machen weinen, draußen werden sie von Lehrern und Polizisten betreut. „Ich möchte nie wieder junge Menschen tot im Straßengraben sehen“, sagt Willi Helmig in das Schweigen und es ist mehr als ein Wunsch, mehr schon eine Bitte an die geschockten jungen Menschen vor ihm.

"Keine Angst machen, sondern euch eure Verantwortung zeigen"

Heike Gösmann wird noch deutlicher: Die Notfallseelsorgerin war vor Ort, als das junge Paar sein Leben verlor. „Und das nur, weil ein anderer junger Mann meinte, Rasen zu müssen. Leute, das tat richtig weh, diese Szenen zu sehen!“ Als Gösmann schildert, wie sie den Eltern der beiden jungen Menschen die schlimme Nachricht überbrachte, taucht unvermittelt ein Foto des jungen Pärchens auf der Leinwand auf - unvermittelt bekommen die Toten ein Gesicht, einen Namen. „Wir wollen euch keine Angst machen“, sagt plötzlich Polizist Werner Bielawa in die gespenstische Stille, „wir möchten euch zeigen, dass ihr Verantwortung tragt, dass ihr als Autofahrer Entscheidungen trefft, die über Leben und Tod entscheiden können. Und den Tod kann man nicht rückgängig machen.“

Vater erzählt vom Verlust seiner Tochter

Einer, der diese schmerzliche Erfahrung am eigenen Leib machen musste, ist an diesem Vormittag auch im Gymnasium. Manfred Mois verlor seine Tochter Marion durch einen Verkehrsunfall: Ein erst 16-Jähriger hatte ihr die Vorfahrt genommen. „Nimm’ unseren Wagen!“ – diese Worte waren die letzten, die Mois zu seiner 20-Jährigen Tochter sprach, als ihr eigenes Auto morgens nicht ansprang. Am Nachmittag war Marion tot. „Das alles in so kurzer Zeit zu begreifen, das ist der Horror“ – Manfred Mois spricht gefasst, seine Worte sind klar und doch ist die Trauer, die ihn umgibt, greifbar. Auch er hat einen Wunsch an die Warsteiner Schüler: „Jeder von euch ist einzigartig und unersetzbar. Übernehmt Verantwortung!“ Dann geht er von der Bühne, langsam kommt Applaus auf. Es ist ein leiser, respektvoller Beifall. Passend zu dem einfachen Holzkreuz.