Sundern. DDR-Zeitzeuge Rainer Schneider schildert, wie er unter dem Unrechtsstaat litt. Projekt mit Hauptschule über viele Jahre begleitet

Wenn man Rainer Schneider begegnet, dann spürt man sehr schnell, dass er ein Mensch ist, der viel mitzuteilen hat. Vor allem junge Menschen mahnt der 1954 in Erfurt geborene Schneider, aufmerksam zu sein, alles kritisch zu hinterfragen und mit wachem Geist durch das Leben zu gehen.

Radvergnügen in Langscheid>>>

Rainer Schneider weiß, wovon er spricht. Er hat als Kind und Jugendlicher bei seinen Großeltern in Thüringen in der DDR gelebt, während sich seine Mutter in der Bundesrepublik befand. Nur ganz selten und dann unter zum Teil schwierigsten Bedingungen gelang es ihm während dieser Zeit überhaupt Kontakt zu ihr aufzubauen und sie zu treffen. Mit 17 scheiterte sein Fluchtversuch und er landete im Gefängnis in Erfurt, Repressalien und Terror durch die Staatssicherheit (Stasi) inklusive. Erst Mitte der 1970er Jahre wurde Schneider nach etlichen Anträgen von der DDR ausgebürgert. Jahrelang wurde er später sogar im Westen noch von der Stasi überwacht.

Kritische Fragen stellen

All das und noch viel mehr schilderte Rainer Schneider zuletzt Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums und der Hauptschule Sundern, als er sie an zwei Tagen im März besuchte. Zumindest für die Hauptschule in Sundern ist der DDR-Zeitzeuge kein Unbekannter. Seit 2012 gehört zum jährlichen Programm der Schule eine Fahrt zur ehemaligen Stasihaftanstalt in Erfurt. Dort führte Schneider Jahr für Jahr die Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 10 durch die Räumlichkeiten, berichtete von seiner Zeit im Gefängnis und vermittelte einen Eindruck, wie es denn ist, wenn man in einer Diktatur lebt.

Neue Impulse für die Innenstadtentwicklung in Sundern>>>

„Meine Schilderungen sind meine subjektive Sicht auf die damalige Zeit. Das betone ich immer. Ich bin kein Geschichtslehrer, der Lehrstoff vermittelt und schematisch vorgeht. Ich kann nur erzählen, was mir widerfahren ist. Deshalb ermuntere ich auch die Kinder und Jugendlichen dazu, mir kritische Fragen zu stellen und alles im Leben zu hinterfragen. Durch meine Berichte stoße ich eine Tür auf, die keine Lehrerin und kein Lehrer öffnen kann“, unterstreicht Schneider.

Sein Verhältnis zur DDR ist ambivalent, daraus macht er keinen Hehl: „Ich kann mit der Ostalgie, die seit geraumer Zeit in Deutschland herrscht, nichts anfangen. Da werden teilweise Verbrechen, aber auch der Mangel an Lebensmittel und anderen Gütern im Alltagsleben nachträglich verklärt. Gleichzeitig sage ich aber auch, dass man unterscheiden muss. Natürlich haben viele Menschen auch angenehme oder schöne Momente in der DDR erlebt, sei es die erste Liebe, Ausbildung und Studium. Ob man es glaubt oder nicht, die Sonne scheint auch in der Diktatur.“

Marschierende Soldaten in einem Schulbuch aus der DDR. 
Marschierende Soldaten in einem Schulbuch aus der DDR.  © Eric ClaßeN

Auch in diesem Jahr sind wieder Schülerinnen und Schüler aus Sundern nach Erfurt und Weimar gefahren, um sich das ehemalige Stasigefängnis anzuschauen. Organisiert wurde das Ganze von den Lehrkräften Charlotte Vergin, Stefanie Münstermann und Bernd Diers. Die drei betreuen Klassen aus der Jahrgangsstufe 10. „Das Programm ist bereits vor 15 Jahren entwickelt worden. Schwerpunkt ist die Neuere deutsche Geschichte mit dem Nationalsozialismus und der deutschen Teilung. An einem Tag wird das KZ Buchenwald besucht, an dem anderen Tag das Gefängnis in Erfurt“, sagt Bernd Diers.

In diesem Jahr fand die Besichtigung der ehemaligen Stasihaftanstalt in Erfurt allerdings ohne Rainer Schneider statt. Aufgrund interner Querelen ist Schneider in der Gedenk- und Bildungsstätte derzeit kein gerngesehener Gast. Zwischen dem Zeitzeugen und der Leitung der Bildungsstätte bestehen unterschiedliche Auffassungen über die zukünftige inhaltliche Ausrichtung der Einrichtung.

Eindrücke der Schülerschaft

Auf Vermittlung des Koordinierten Zeitzeugenbüros der Stiftung Hohenschönhausen gelang es der Hauptschule in Sundern, dass Rainer Schneider in diesem Jahr nach Sundern kommt, um dort seine Erfahrungen zu berichten. Von der Schülerschaft wird das positiv aufgenommen. Bei den Schilderungen Schneiders kann man die Betroffenheit vieler Schülerinnen und Schüler spüren. Für sie ist es etwas anderes, Geschichte durch einen Zeitzeugen zu erfahren, statt durch einen Geschichtslehrer.

Eine Geigerin aus Arnsberg macht Karriere>>>

Rainer Schneider hat auch Bücher aus seiner Schulzeit mitgebracht. Eines der Bücher ist wie ein Märchen aufgebaut, doch bereits nach wenigen Seiten sieht man marschierende Soldaten der Nationalvolksarmee. Mit dieser Literatur wollte die DDR schon den Nachwuchs auf den sogenannten Klassenkampf gegen den „Feind aus dem Westen“ vorbereiten.

Schneider berichtet über Einschüchterungen durch seinen damaligen Schuldirektor in Erfurt, über seinen Bruder, der republiktreu blieb und bei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) Karriere in der DDR machte und über seinen Hungerstreik im Stasigefängnis.

Mächtige Geheimdienste

„Aus meinen Stasiakten habe ich erfahren, dass die Staatssicherheit dem Gericht vorgegeben hatte, nach welchen Vorgaben man mich wegen der versuchten Republikflucht verurteilen sollten. Die Gefahr, die von solch mächtigen Geheimdiensten ausgeht, möchte ich jungen Menschen immer wieder vor Augen führen“, sagt Schneider. „Und wenn sie merken, dass Unrecht herrscht, sollen sie sich für Schwächere einsetzen. Die aktuelle Situation in der Ukraine führt uns das noch einmal vor Augen!“

Was ist das Koordinierte Zeitzeugenbüro?

Das Koordinierte Zeitzeugenbüro ist ein zusätzliches Angebot der politischen Bildung in Deutschland. Es fungiert dabei als gemeinsame Servicestelle der Bundesstiftung Aufarbeitung, der Stiftung Berliner Mauer und der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.

Die Aufgabe des Büros besteht u.a. darin, Lehrkräften in der gesamten Bundesrepublik Zeitzeugen aus der DDR zu vermitteln. Diese berichten im Unterricht oder an außerschulischen über politischen Widerstand, staatliche Verfolgung und ihre Hafterfahrungen in der DDR.

Durch diese Schilderungen sollen Schülerinnen und Schüler erkennen und begreifen, wie der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur aussieht.

www.ddr-zeitzeuge.de