Siegen. Dank Handy, Tablet und Co. bewegen sich Kinder immer weniger. Experten sagen, wozu das führt – und was wir alle gegen Rückenschmerzen tun können.
Hatten Sie in den letzten zwölf Monaten mal Rückenschmerzen? Bei einem Drittel der Leute aus dem Kreis Siegen-Wittgenstein ist das offensichtlich: Mehr als 92.300 Menschen befinden sich aktuell wegen Rückenproblemen in ärztlicher Behandlung, das entspricht 33,6 Prozent. 134.166 Ausfalltage sind dadurch im vergangenen Jahr bei AOK-Mitgliedern in Siegen-Wittgenstein zusammengekommen. Im Vergleich zu 2021 ganze 27,4 Prozent mehr. Das RKI hat als Antwort auf die Frage herausgefunden, dass sogar zwei Drittel der Deutschen im letzten Jahr mal über Rückenschmerzen geklagt haben.
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Sowohl Kinder als auch Erwachsene verbringen ihren Alltag immer mehr im Sitzen und vor einem oder gleich mehreren Bildschirmen. Aber nicht nur das ewige Rumhocken, sondern auch das, was wir essen oder wie es uns geht, wirkt sich auf unseren Rücken aus. Drei Siegener Experten geben ihre einfachsten Tipps, was jeder gegen sein Rückenzwicken machen kann und wie man schon im Kindesalter am besten vorsorgt.
Einrosten in der digitalen Welt: Wir müssen uns wieder mehr bewegen
Die Volkskrankheit der Rückenschmerzen hat in vielen Fällen einen ganz einfachen Grund: den Mangel an Bewegung. Das fängt schon im Kindesalter an. Noch vor der Pandemie haben viele Eltern versucht, die medialen Zeiten ihrer Kinder einzuschränken. Seitdem viele Aufgaben in der Schule oder im Berufsleben auf das Digitale umgestellt wurden, sitzen wir, ob im Büro oder sogar zu Hause, oft viele Stunden auf einem Platz. „Damit einhergehend ist eine schlechte Haltung, in der wir zu lange verharren. Man sollte alle 30 bis 45 Minuten seine Sitzhaltung verändern“, rät Maik Schöler, der leitende Physiotherapeut des ARZ Siegen.
Schon häufig haben Kinder und Jugendliche Haltungsschwächen, weil sie zu wenig Sport machen. Hinzu kommt, dass heutzutage sogar kurze Schulwege oder der Weg zur Arbeit mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. „Menschen auf der anderen Seite der Welt, die viele Kilometer zurücklegen müssen, um Wasser zum Überleben zu holen, haben eine ganz andere Muskulatur als wir. Sie benutzen ihren Körper so, wie es die Natur vorgesehen hat“, erklärt Dr. Christian Sippel, der leitende Arzt der Kinderorthopädie der DRK-Kinderklinik Siegen. Also: Wenn es möglich ist, einfach mal wieder öfter zu Fuß gehen oder das Fahrrad nehmen. Wer einen Schritt weitergehen möchte: Joggen, Nordic Walking und Schwimmen sind besonders gut für den Rücken.
Sport zur Gewohnheit machen: Routinen entwickeln
Im Erwachsenenalter liegen die häufigsten Probleme an den Bandscheiben und der Hüfte oder entstehen durch generelle Verspannung im Rücken und Nacken. Manchmal müssen also gezielte Stellen des Körpers trainiert werden. Aber auch, wenn keine akuten Problemstellen am Körper vorliegen, ist es natürlich immer sinnvoll, regelmäßig Sport zu treiben. Der Siegener Personal Trainer Tobias Schür, der sein Studio in der Numbachstraße 30 hat, empfiehlt, in allen Fällen gewisse Routinen in seinen Alltag zu etablieren.
„Ein- bis zweimal spazieren am Tag, auch wenn es nur eine halbe Stunde ist, kann vieles bewirken. Durch die ganze Mobilität, die wir zur Unterstützung haben, vergessen wir, dass wir selbst einen Bewegungsapparat haben, den wir nutzen können“, sagt Tobias Schür. Der nächste Schritt ist der Weg ins Fitnessstudio. Muskeln sind nicht nur da, um schön auszusehen und müssen auch nicht riesig sein. „Sie unterstützen unseren Bewegungsapparat extrem gut für unseren Alltag, um die Widerstandsfähigkeit halten zu können“, weiß Tobias Schür.
Gemeinsam schaffen wir das: Unterstützung holen
Sich für Sport aufzuraffen oder regelmäßig Übungen für seinen Rücken zu machen, kann nervig sein. Wer sich für ein Personal Training anmeldet, verpflichtet sich nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch dem Trainer, der sich Zeit für einen nimmt. Einen Termin abzusagen ist psychologisch schwieriger, als nur den Tag verstreichen zu lassen. „Wenn man einen Trainingsplan hat, an dem man sich orientiert und der Schritt für Schritt auf Ziele hinarbeitet, dann bleibt man eher am Ball“, sagt Tobias Schür. Wer darauf keine Lust hat, kann dies alleine versuchen. Die Gefahr, sich dann doch nicht motivieren zu können, ist jedoch höher. Ein Trainingsplan muss dabei nicht von jetzt auf gleich ganz kompliziert sein. Er kann schon mit dem regelmäßigen Spazierengehen, Dehnübungen und einfachen Übungen beginnen. Wichtig ist, klein anzufangen: Schon zweimal 45 Minuten Sport in der Woche können auf Dauer vieles bewirken.
Es muss nicht immer ein Personal Trainer sein, auch mit Freunden oder in einer Gruppe Sport zu treiben kann motivieren. Eventuell hat jemand aus dem Freundeskreis mit den gleichen Problemen zu kämpfen und man kann sich mit bestimmten Übungen gegenseitig weiterhelfen. Wer keine akuten Rückenprobleme hat und nicht in der Rehasport-Gruppe, beim Physiotherapeuten oder mit dem Personal Trainer arbeitet, der kann in Sportvereinen oder gemeinsam mit Freunden im Fitnessstudio Sport treiben.
Gesunde Ernährung und überlegter Konsum: Wer raucht, hat schneller Rückenschmerzen
Dass gesunde Ernährung für einen gesunden Körper fördernd ist, überrascht nicht. Ausgewogene Ernährung, die viele Nährstoffe und Vitamine enthält, kann dabei helfen, Rückenschmerzen zu lindern. Interessant wird es, wenn man einen Blick auf die Folgen von schlechtem Konsumverhalten wirft. Ein großes Problem ist Übergewicht. Vor allem Rücken- und Kniebeschwerden werden bei übergewichtigen Menschen stark vergrößert.
Rauchen ist schlecht für die Lunge, das Herz, die Haut und so ziemlich jeden anderen Teil des Körpers – so auch der Rücken. Nikotin-Konsum fördert Rückenschmerzen, weil beim Rauchen die Durchblutung schlechter wird. „Gerade die Wirbelsäule ist im Bereich der Bandscheiben ein eher schlecht durchblutetes Gewebe, wo häufig Probleme auftreten. Durch schlechte Konsumgewohnheiten kann man diese Probleme begünstigen“, erklärt Dr. Christian Sippel.
Tut‘s im Rücken weh, dann leidet auch der Kopf: Psychologische Hilfe suchen
Erhält man eine unschöne Diagnose und plagt sich ohnehin schon lange mit Schmerzen durch den Alltag, kann das nicht nur im Rücken, sondern auch im Kopf für Probleme sorgen. „Psychologisch damit umzugehen, ist immer schwierig. Wenn es die Patienten sehr belastet, kann man da auch mal eine psychologische Betreuung machen“, sagt Dr. Christian Sippel.
Aber Rückenschmerzen können nicht nur psychische Belastungen zur Folge haben, sondern auch umgekehrt. Denn wie Maik Schöler erklärt, treten fast 75 Prozent der Rückenleiden unter anderen Faktoren in Verbindung zu psychischen Beschwerden auf. „Wenn der Chef einem im Nacken sitzt oder man die Last der Familienprobleme auf dem Rücken trägt, tun diese Stellen eben auch weh“, sagt Schöler schmunzelnd. Eine psychisch belastete Person neigt dazu, sich im Bett einzuigeln und legt oft keine aufrechte Haltung an den Tag. Bei selbstbewussten Fitness-Influencern sieht das anders aus. Eine aufrechte Steh- und Sitzhaltung trägt auf Dauer zu einem gesunderen Rücken bei.
In Zeiten von Fortnite und Co.: Kinder für den Sport begeistern
Wir gehen heutzutage deutlich weniger Schritte als noch vor 20 Jahren. In dieser Zeit ist es vor allem für Kinder im Wachstum wichtig, zur Bewegung animiert zu werden. Guido Müller ist Fraktionsvorsitzender der FDP Siegen-Wittgenstein und organisiert jährlich das „Rudelturnen“, das Menschen zusammenbringt, um gemeinsam Sport zu treiben, ohne dabei Druck zu verspüren. Jener Druck werde laut Müller unrechterweise in Schulen und Vereine angenommen. „Beim Verbot der Bundesjugendspiele hat man gelesen, dass angeblich Leute früher ein Trauma davon hatten. Ich kenne niemanden, bei dem das so ist. Der Zeitgeist spricht für Rückenschmerzen“, so Guido Müller.
Bei allem, was mit unserem Lebenswandel an Bewegung wegfällt, ist es wichtig, selbst aktiv zu werden. Bei Kindern sollte Spaß im Vordergrund stehen. Sie haben im Gegensatz zu Erwachsenen keine akuten Schmerzen, sondern eher Verspannungen durch mangelnde Bewegung. Kinder sollten für eine Sportart begeistern werden, die ihnen Spaß macht. Vor allem Kampfsportarten, Klettern, Reiten, Tanzen oder Schlägersportarten fördern die Rücken und Schultermuskulatur. Empfohlen sind für Kinder solche Aktivitäten im Verein mindestens zweimal die Woche.
Es ist meist nicht zu spät: Bei Schmerzen früh genug handeln
Bei Rückenproblemen sollte nie zu spät gehandelt werden. Eltern sollten bei ihren Kindern immer ein Auge darauf haben, ob zum Beispiel die Wirbelsäule gerade ist. „Am Anfang sehen wir unsere jungen Kinder ganz oft beim Duschen und so weiter und je älter die Kinder werden, desto weniger wollen sie sich vor uns Vätern und Müttern zeigen. Es ist nicht selten so, dass Eltern mit ihren Kindern in den Urlaub fahren und am Strand plötzlich sehen, dass die Wirbelsäule ja ganz komisch aussieht“, sagt Dr. Christian Sippel. Ganz wichtig sind also die U- und J-Untersuchungen beim Kinderarzt, um rechtzeitig Fehlstellungen zu erkennen.
Und auch im Erwachsenalter ist bei Rückenschmerzen natürlich nicht alles verloren. Sobald wir Schmerzen verspüren, sollten wir immer besser direkt einen Orthopäden aufsuchen. Dieser kann mit seiner Expertise am besten bestimmen, wie es weitergeht. Ein Physiotherapeut kann mit gezielten Übungen die individuellen Problemzonen bearbeiten. Lässt man das über Jahre schleifen und häuft zudem noch Übergewicht an, kann es zu so einem Verschleiß kommen, dass sich manche Missstände nicht mehr zurückdrehen lassen. Wenn es aber nicht viel zu spät ist und man seinen Lebenswandel ändert, kann man deutliche Veränderungen erzielen.
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