Hilchenbach. Die Stadtbücherei in der Hilchenbacher Wilhelmsburg ist ein Ort, wo sich Menschen treffen. In 33 Jahren hat Birgit Latz eine Menge erlebt.

Es gab diesen einen Moment, an dem Birgit Latz schwach wurde, den beruflichen Umstieg zur Lehrerin doch noch anzugehen. Das war, als es in Dahlbruch noch eine Hauptschule gab und die Schulklasse zu einem Poesie-Workshop mit dem Siegener Dichter Olaf n. Schwanke in die Stadtbücherei gekommen war. „Die haben mir erklärt, was ein Rondel ist.“ Eine Gedichtform… Zwei Tage später sei ein Mädchen aus der Klasse zurück in die Wilhelmsburg gekommen, nur um der Büchereileiterin den auswendig gelernten „Knaben im Moor“ vorzutragen. Droste-Hülshoff also. Die Bücherei war dann aber doch stärker, die studierte Deutsch- und Kunstlehrerin blieb. 33 Jahre lang. Jetzt, Ende September, geht Birgit Latz in Rente.

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Bücher in die Hand nehmen

Landsweiler-Reden heißt der kleine Ort im Saarland, in dem Birgit Latz aufgewachsen ist. Dort gab es eine kirchliche Bücherei, deren begrenzten Bestand sie bald durch hatte. In der Kreisstadt Neunkirchen, während der Schulzeit, war die Auswahl schon größer, an der Universität in Saarbrücken schließlich überwältigend. Ihre Staatsarbeit hat sie über Frauenarchive und Frauenbibliotheken geschrieben, in der Abschlussarbeit des Lehramts-Referendariats ging es um Lesebiografien von Jugendlichen. Lehrerin wurde sie, wie so viele ihres Jahrgangs mit ähnlichem Studium, nicht – in den 1980ern war gerade „Lehrerschwemme“. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in der Hilchenbacher Stadtbücherei, die 1982 in der Wilhelmsburg eröffnet worden war, nahm sie gern. 1990 war das. Als der Bibliotheksleiter 1991 starb, trat sie seine Nachfolge an.

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6000 Bücher standen damals in den Regalen, ein paar Dutzend Hörspielkassetten und drei abonnierte Zeitschriften. Heute sind es 16.000 Bücher und 3000 Filme, Hörbücher und Zeitschriften. Zuerst habe sie umsortiert, jedes Buch in die Hand genommen, „geguckt, was fehlt“. Angeschafft wurde fortan beim örtlichen Buchhandel, nicht mehr bei der Einkaufszentrale. Um dem Preis, dass die gekauften Bücher noch nicht „verzettelt“ waren. Die Älteren erinnern sich: Jedes Buch hatte eine Karteikarte und hinten drin einen Zettel, auf den der späteste Rückgabetermin gestempelt wurde.

Vor allem Kinder- und Jugendbücher hat sie geordert. Denn die kleinen Hilchenbacher kommen an ihrer Bücherei nicht vorbei: Birgit Latz bietet Klassenführungen an, packt Bücherkisten für Schulkassen und erfüllt Bücherwünsche. Zwei Drittel der Leserschaft sind Kinder und Jugendliche, von den Erwachsenen sind drei Viertel Frauen. Deshalb ist die Hilchenbacher Stadtbücherei stark in Belletristik. Männer leihen eher Sachbücher aus, erzählt Birgit Latz, „und blutrünstige Krimis“.

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Sachen wachsen sehen

„Ich sehe gern Sachen wachsen“, erklärt die Büchereileiterin, warum sie den Job eigentlich immer lieber macht. „Es hat mir Spaß gemacht, die Leute von Uta Danella auf Rita Mae Brown zu bringen und von Konsalik auf Arne Dahl.“ Denn in Hilchenbach wird Birgit Latz gern um Leseempfehlungen gebeten, die dann auch ebenso gern befolgt werden. Die Bücherei, sagt sie, sollte eigentlich nie nur Ausleihstation sein. Sondern Ort der Begegnung.

Früher gab es die Vorlesestunden für Kinder, heute die Spielenachmittage für Ältere. Und dann die ganzen informellen Treffs. „Kinder, denen es zu Hause zu laut war, haben hier ihre Hausaufgaben gemacht, Comics und Aufklärungsbücher gelesen.“ Letztere übrigens bis heute, die die jungen Nutzerinnen und Nutzer nach jedem Umräumen immer wieder selbst entdecken. „Gefragt hat mich noch nie jemand danach.“ Besonders gern erinnert sie sich an die Jungsclique, die freitags nachmittags zum Pokémon-Spielen gekommen ist. „Von denen sind alle was geworden.“ Ein Lehrer, eine medizinisch-technische Assistentin, ein Filialleiter, sogar ein Historiker, der für ein Projekt im Stadtarchiv in die Wilhelmsburg zurückgekommen ist. Als das Internet kam, „hatte ich hier jeden Nachmittag die Bude voll.“ Zwei PCs standen da, sie durften für 50 Cent je 15 Minuten genutzt werden, zehn Ausdrucke waren im Preis inbegriffen.

Die Nachfolgerin

Neue Leiterin der Hilchenbacher Stadtbücherei wird Leonie Hartmann. Die Oberhundemerin hat Deutsch und katholische Religion für das Lehramt in der Sekundarstufe 2 studiert, während des Studiums an der Uni-Bibliothek gearbeitet und war Vertretungslehrerin an einer Grundschule. „Ich lese gern Thriller“, sagt sie und kündigt an: „Erst mal gehe ich in die Schulen.“

Mit Veränderungen leben

Heute genügt WLAN. Wie überhaupt manches anders geworden ist, außer der Digitalisierung der Ausleihe und der Erweiterung des Angebotes durch E-Books („Onleihe“). Eltern – jetzt die, die Birgit Latz als Schulkinder kennen gelernt hat - kommen nach wie vor mit ihren Kindern. Ausleihen ist die preisgünstigere Alternative zum Kaufen. „Und auch Eltern langweilen sich, wenn sie immer das gleiche vorlesen müssen und immer wieder dieselben Benjamin-Blümchen-Kassetten hören müssen.“ Vor allem die Sieben- bis 15-Jährigen bleiben heute aus. Das liegt, so glaubt Birgit Latz, an den länger gewordenen Schultagen, und auch daran, dass Wissen heute aus vielen anderen Kanälen leicht zugänglich ist.

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Pessimistisch ist die Bücherleiterin deshalb nicht. „Ohne Lesen kannst du auch mit dem Internet nichts anfangen.“ Nach wie vor überreicht der Kinderarzt das erste Bilderbuch, nach wie vor bekommen Lernanfänger ihre Schultütenbriefe. Weil sie weiß, dass ein helles Kind nach zehn Bänden die Nase voll hat von Hanni und Nanni und das Repertoire der „Drei Fragezeichen“ endlich ist. „Dann lesen die was anderes.“ Das ist dann die Stunde der Bücherei. Die, schon bevor es den Begriff gab, ein „Dritter Ort“ neben Zuhause und Schule/Arbeit war, wieder werden kann und eigentlich auch ist. „Man muss was ändern“, glaubt Birgit Latz aber – Öffnungszeiten anpassen zum Beispiel an den veränderten Alltag der Menschen, für die die Bücherei da sein will. Oder erweitern um eine „Bibliothek der Dinge“. In Wilnsdorf steht auch eine Popcornmaschine im Regal.

Menschen mögen, die lesen

30 Zeitschriften hat die Bücherei übrigens heute abonniert, zwei gespendete Abos kommen dazu. Auch die Bravo ist dabei, noch, die einstige Kult-Zeitschrift für Heranwachsende, die längst nur noch einmal im Monat gedruckt wird. Außerdem im Regal einige Zeitschriften, die Kundinnen selbst beziehen und nach dem Lesen zur Verfügung stellen, und der „Spiegel“; Birgit Latz‘ eigener. „Zeitschriften sind teuer.“ Budget und Verwaltung, das ewige Rechnen und die Dienstwege, gibt sie zu, „sind mir auch nach 30 Jahren nicht in Fleisch und Blut übergegangen.“ Die entscheidende Starthilfe dabei, sagt sie voller Dankbarkeit, haben ihr damals Gabi Hövelmann, ebenfalls im Rathaus beschäftigte Schwester des verstorbenen Büchereileiters Friedhelm Hövelmann, und der frühere Stadtarchivar Reinhard Gämlich gegeben, der Kollege von derselben Etage.

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21 Stunden in der Woche ist die Bücherei heute geöffnet, das hat sich seit 1990 nicht geändert. Unterstützt wird Birgit Latz, die – wie auch ihre Nachfolgerin – eine 30-Stunden-Stelle hat, durch zwei Kolleginnen mit jeweils 12,5 Wochenstunden. Es ist halt immer alles knapp im armen Hilchenbach, das tapfer an einer kulturellen Infrastruktur festhält, die sich vergleichbar kleine Städte nie leisten werden.

Diesen Umgang mit dem Mangel, sagt Birgit Latz, werde sie nicht vermissen. Wohl aber die Menschen, deren Lektüreleben sie begleitet hat. Deshalb gibt es auch am Donnerstag, 21. September, 19.30 Uhr, noch einmal einen Krimiabend in der Wilhelmsburg, an dem sich die Leute gegenseitig ihre Lieblingskrimis vorstellen und sich dabei von Betty Roth mit leckeren Häppchen und rotem Wein verwöhnen lassen. Sie mag halt Menschen, die lesen.

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