Siegen. Ein neues Buch hat bei ihr eine 50 Seiten lange Chance, erzählt Christine Westermann – wenn es bis dahin nicht fesselt, ist es vorbei.

Oft können die Mitarbeiter an der Lyz-Getränke-Bar an den Wünschen der Besucher erkennen, welche Veranstaltung angeboten wird: Bei Rock und Blues vorwiegend Bier, an diesem Abend mit fast ausschließlich weiblichem Publikum aber Drinks, Sekt und Wein. Also das, was Mann/Frau sich auch zu Hause gönnt, wenn man ein Buch zur Hand nimmt. Das tut an diesem Abend Christine Westermann, die aus ihrem gerade erschienenen „Die Familien der anderen – Mein Leben mit Büchern“ liest.

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Dicker als 350 Seiten sollte ein Buch nicht sein

„Sie wissen gar nicht, wie es mir geht, wenn man hier sitzt und für die nächsten 90 Minuten Verantwortung trägt“, sagt Christine Westermann, die doch nach fast einem halben Jahrhundert Berufsjahren für Radio und Fernsehen, darunter Sendungen mit Frank Plasberg und Götz Alsmann, keinerlei Lampenfieber mehr haben müsste. „Lesungen sind wie eine große Belohnung“, sagt sie und genießt sichtlich die Sympathie des Publikums im fast vollen Lyz, die von der ersten Sekunde an spürbar ist. Sie gesteht, dass ihr beim Schreiben vor allem die ersten 50 Seiten eines Buchs schwer fallen, ab Seite 100 es aber umso leichter wird.

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So sei es auch bei ihrem aktuellen Bestseller gewesen. Den hat sie in unterschiedliche Kapitel geteilt und jedem ein besonderes Zitat vorangestellt. Etwa eins von Mark Twain „Ein Klassiker ist ein Buch, das jeder gelesen haben will, aber keiner liest“. Das bringt sie auf ihre Erstbegegnung mit einem solchen, nämlich Thomas Manns „Der Zauberberg“, der mit seinen knapp 1 000 Seiten hinter Glas im elterlichen Bücherschrank stand, „unweit vom ADAC-Reiseatlas“. Den „Zauberberg“ hat sie im Laufe ihres Lebens „erbarmungslos durchgezogen“, aber auch die Erkenntnis gewonnen, dass die Seitenzahl eines Buches die Zahl 350 eher nicht überschreiten sollte.

Jeden Monat 60 bis 80 Bücher

Andere Erfahrungen aus der Welt der Bücher: „Einmal hat ein Verlag mit mir das Umschlagfoto gemacht, obwohl ich noch keine Zeile geschrieben habe. Aber: Wenn man den Vertrag unterschreibt, gibt es Vorschuss.“ Und verschweigt auch nicht, hat sie doch einen Hang zum Plaudern, eine ganz profane Leidenschaft zu haben: Als Kölnerin ist sie Mitglied des 1. FC und besitzt eine Dauerkarte für dessen Heimspiele, hat aber auch ein Herz für Werder Bremen und den BVB.

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„Plötzliche Regenfälle können zum Betreten einer Buchhandlung führen“, sagte einst der unvergleichliche Loriot und ist auch ein Zitat eines Kapitels. Und Buchhandlungen suchte Christine Westermann vermehrt auf, als sie im Jahr 2000 einen Anruf vom WDR bekam, ob sie nicht im Wechsel mit Elke Heidenreich Büchertipps geben wollte, zwei pro Monat. Fünf bis sechs Titel waren es, die ihr der Buchhändler ihres Vertrauens dann empfahl. Inzwischen bekommt sie von den Verlagen 60 bis 80 Bücher monatlich zugeschickt. „Schwierig, die richtigen zu finden“, sagt sie, „ich lese einige an und wenn es mich nach höchstens 50 Seiten nicht gepackt hat, lege ich sie weg.“

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Vier Jahre im Literarischen Quartett

Vier Jahre lang war Christine Westermann auch Mitglied im „Literarischen Quartett“, zu dem neben dem „Hohepriester der Kritiker“ Marcel Reich-Ranicki auch der Autor Volker Weidermann gehörte. Dieses fand damals im Foyer des Berliner Ensembles statt, dem Stammhaus von Bertolt Brecht, der in diesem Theater auch seine eigenen Stücke uraufführen ließ. „Als Nicht-Intellektuelle hatte ich dort einen schweren Stand“, erinnert sie sich, „meist verlor ich die Abstimmungen über die Qualität der vier vorgestellten Bücher mit 1 : 3.“ An diesem Abend aber gewinnt Christine Westermann – sie wird bald 75 – die Herzen von unzähligen vorwiegend weiblichen Fans im Lyz, die geduldig in einer langen Schlange darauf warten, das neue Buch von ihr signiert zu bekommen.

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