Siegen. Der neue Apollo-Intendant Markus Steinwender hat „Wer hat Angst vor Virgnia Woolf?“ inszeniert. Das Premieren-Publikum ist begeistert.
Im Zwielicht der Nacht zeigt sich das Grauen nur kaum. Zu hören sind eine Frau, ein Mann, ziemlich angeschickert und auf dem Weg nach Hause. Alles ganz normal?! Mitnichten. Denn diese beiden, ein Ehe-Paar, verbindet längst nicht mehr viel, maximal die aus der Ohnmacht geborene Lust, einander zu verletzen, ein toxisches Spiel, das perfiden Regeln folgt und damit ablenkt vom großen Schmerz, von der dauerhaften Enttäuschung, der unerfüllten Sehnsucht, dem Sich-Stellen einer Realität, die den schönen Schein längst nicht mehr wahren kann.
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Anhaltender Beifall vom ausverkauften Haus
Georg, Geschichtsprofessor, kommt an der Universität nicht voran. Was verheißungsvoll begann, findet kein Ziel. Das hatte sich Martha, die Tochter des Rektors, anders vorgestellt. Ihr Mann hätte der Nachfolger des Vaters werden können. Hätte, hätte … Das Leben der beiden macht nur der Konjunktiv erträglich; die nackte Gegenwart ist brutal. Das bekommt auch das putzige Pärchen zu spüren, das nach der Hochschul-Kostümparty auf einen Absacker geladen ist: zwei Schätzchen, händchenhaltend und wie aus dem Ei gepellt, erst fasziniert, dann irritiert, dann gleichfalls derangiert und demoliert. Von innen frisst der „böse Wolf“ die Seelen auf.
Es geht weiter
Weitere Vorstellungen von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ folgen am 17., 18. und 29. März, jeweils ab 19.30 Uhr. Ticket-Info unter 0271/77027720.
Im Format „Theater & Kirche“ gibt es am Sonntag, 26. März, 10 Uhr, in der Nikolaikirche einen evangelischen Gottesdienst, der das Stück im Dialog reflektieren möchte.
Die Inszenierung wird gefördert durch das Projekt „Neustart Kultur – Back to Stage“ des Deutschen Bühnenvereins.
Die Masken fallen in Edward Albees Schauspiel „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ – einem dramatischen Klassiker, der das Zeug zum Saison-Highlight am Apollo-Theater Siegen hat. Am Samstagabend feierte die Inszenierung von Intendant Markus Steinwender eine vielbeachtete Premiere. Das Haus war ausverkauft. Im anhaltenden und anerkennenden Beifall am Ende löste sich auch die Spannung des Publikums, das hin- und hergerissen war zwischen Sympathie, Antipathie und auch Empathie mit mal dieser, mal jener Figur, gefesselt von den Salven und Kaskaden eines wortreichen Gemetzels, gefragt nach einem möglichen Ausweg in diesem verfahrenen Lebensentwurf und durchaus auch befragt nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Seins.
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Großartig: Milan Pešl und Torben Föllmer
Auf der Bühne liefern sich in der Eigenproduktion vier allesamt in Siegen verortete Mimen einen heißen Tanz. Milan Pešl gibt dem Historiker Georg eine verstörende Ambivalenz. Der viel zu große Harlekin-Anzug täuscht, die hängenden Schultern tun es auch, das Unterwürfige wächst sich aus in potentes Gehabe, das wiederum den Rückzug gleich impliziert. Bestes Beispiel vielleicht: Georgs Patrouille mit der Knarre im Anschlag. Sein Schuss verpufft zwar im knallroten Glitter, doch Gefahr ist immer im Verzug. Dagegen verletzt sich Martha vor allem selbst, schüttet sich mit Alkohol zu, sucht die Betäubung im Rausch der Sucht, der Endorphine. Ja, auch sie ätzt, aber letztlich rührt ihre Darstellung vor allem an. Elisabeth Nelhiebel zeigt eine Frau, die sich in den Schatten (ihres Vaters, des universitären Lebens, ihrer Träume …) verloren hat. Gesehen wird sie nur, wenn sie laut und ungebärdig ist, gehässig, gemein. Hinter dieser Fassade ist sie vor allem das: allein.
Ganz anders ihre Gästin, die junge, aufstrebende und zielstrebige Biologin, die mit beiden Beinen so fest im Leben steht, nur vordergründig naiv ist, weil mit allen Wassern gewaschen. Einen Namen hat „Mein Schatz“ (kühl/cool: Henriette Heine) nicht, wohl aber mit „Schatz“ (großartig „außer sich“: Torben Föllmer) denselben gehoben. Markus Steinwender hat gut daran getan, die Stereotypen aus dem 60er Original zu konterkarieren, sprich: die Rollen von Putzi und Nick zu tauschen, um damit das Tumb-Treuherzige männlich und das Karriereaffine weiblich zu etikettieren.
Am Rande des Wahnsinns: Verwüstung auf der Bühne
Das Ensemble agiert auf einer Bühne (Stefan A. Schulz, auch Kostüme), deren zunächst geordnetes Muster zusehends verwüstet wird. Die Installation aus Klopapierrollen und rot gefüllten Fläschchen steht für das Sich-Entleeren und den gleichzeitig ungestillten Durst, für das Bedürfnis nach Erleichterung und nach Betäubung. Diese Menschen sind am Rande ihrer Kräfte, am Rande des Wahnsinns. Diesen Rand markiert sichtbar die untere Barriere des Eisernen Vorhangs, der sich sukzessive (Akt für Akt!) hebt, um immer mehr von der Tragödie zu enthüllen. Und das irgendwo im Nirgendwo, denn die himmelhohe Mauer im Hintergrund erweist sich als Solitär in der Weite des nächtlichen Raums. Immer klarer wird das Licht, parallel zum Erkenntnisgewinn, auch was die Geschichte des abwesend-anwesenden Sohnes betrifft.
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„Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ setzt in der Fassung des Apollo-Theaters nicht allein auf die Kraft des (in besonderen Momenten auch durchs Mikro verstärkten) gesprochenen Wortes und auf das enorme darstellerische Vermögen, sondern auch auf den Sog der Musik (Michael Rückert), der Klänge und damit auf mitunter unterschwellig Irritierendes. So wird das beobachtete Unwohlsein tatsächlich zur selbst erlebten Verunsicherung.
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