Littfeld. Fred Meier wäre heute 83. Er hätte ein glückliches Leben führen können. Seit 40 Jahren erinnert Littfeld an den Jungen.

Es ist fast 80 Jahre her. Am 28. Februar 1943 gehen Minna und Siegfried Meier den schweren Weg zum Littfelder Bahnhof, ihren dreijährigen Sohn Fred schieben sie in einer Schubkarre vor sich. Noch am Bahnsteig entreißt ein SS-Mann den Jungen seiner Mutter. Es ist nicht genau überliefert, ob die Familie getrennt oder zusammen deportiert wurde. Ermordet wurden sie in Auschwitz. Als sie später, am 27. Dezember 1950, für tot erklärt wurden, entschied sich das Amtsgericht Siegen für den 8. Mai 1945 als Todestag, den Tag der Befreiung Deutschlands. Astrid Collenberg, die stellvertretende Kreuztaler Bürgermeisterin, denkt laut nach. Wie Fred Meier kürzlich Geburtstag gefeiert hätte, Heiligabend, seinen 83. im Kreise seiner Kinder, Enkel, vielleicht auch Urenkel, „und sich an viele schöne Momente in seinem Leben zurückerinnert hätte“.

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Vor 40 Jahren erste Gedenkstunde am Fred-Meier-Platz

Es ist fast 40 Jahre her. Am 30. Januar 1983 versammeln sich Littfelder, Vertreter der Stadt und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit zum ersten Mal auf dem gerade neu benannten Fred-Meier-Platz. Sie hatten den Jahrestag der Machtergreifung Hitlers gewählt, den 50., weil es den nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus noch nicht gab. Damals, 1983, hatten sie vielleicht das Bild von Fred Meier als Familienvater in den besten Jahren vor Augen, der seinen 80-jährigen Vater und die zwei Jahre ältere Mutter noch mit im Haus wohnen hat. Eine ganze Reihe von denen, die 1983 dabei waren, ist auch an diesem Freitag wieder dabei, als Musikschulleiter Ralf Stiebig am Piano zur Feierstunde einstimmt.

Pfarrer Friedemann Hillnhütter denkt über die Zukunft des Erinnerns nach.
Pfarrer Friedemann Hillnhütter denkt über die Zukunft des Erinnerns nach. © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Friedemann Hillnhütter, pensionierter Pfarrer aus Eichen, hält das Titelblatt der Westfälischen Rundschau von diesem Tag hoch: „Mit Tiktok nach Auschwitz.“ Manche halten das Videoschnipselportal nicht für das angemessene Medium für diesen ernsten Inhalt, weiß der ehemalige Superintendent des Kirchenkreises, der nun auch schon 75 Jahre alt ist. Aber um junge Menschen überhaupt zu erreichen? „Ich wünsche uns Phantasie, um auf neue Ideen zu kommen.“ Ideen, wie die Lehren aus dem Verbrecherregime des „Dritten Reichs“ überliefert werden können. Da darf auch mal etwas daneben gehen, findet Hillnhütter: „Besser, als wenn uns gar nichts mehr einfällt.“

Zwölf Namen, die nicht vergessen werden

„Wie soll es denn weitergehen?“, hat Friedemann Hillnhütter am Beginn seiner Ansprache gefragt. Weitergehen mit dem Erinnern, wenn die Zeitzeugen nicht mehr leben. Vielleicht mit jungen Menschen wie Mika Neuhaus und Ilayda Mutlu aus dem Littfelder Jugendtreff Glonk, die gemeinsam mit Treffleiter Melvin Busch Gedanken vortragen. „Mit unserer Teilnahme an dieser Veranstaltung wollen wir zeigen, dass wir entschlossen sind, ein Zeichen zu setzen“, sagen sie. „Unsere Mission ist es, mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen zu leben, sie nicht auszuschließen, mit ihnen auszukommen, sie unser Leben bereichern zu lassen.“ Ohne dass Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung eine Rolle spielen. Zwölf Namen tragen sie vor, die nicht vergessen werden sollen: Fred, seine Eltern, seine Großtante Sarah. Der Metzger Raphael Meier, seine Frau und deren Schwester. Toni Meier und ihre Tochter Grete. Johanna Rosenhelm aus Krombach. Freds Onkel Hugo. Raphaels Neffe Berthold. Und doch: Ein Wort wie „Konzentrationslager“ geht ihnen nur wie ein Zungenbrecher über die Lippen. 80 Jahre ist es her.

Ralf Stiebig begleitet am Piano. Neben ihm: Ilayda Mutlu, Melvin Busch, Mika Neuhaus (von links)
Ralf Stiebig begleitet am Piano. Neben ihm: Ilayda Mutlu, Melvin Busch, Mika Neuhaus (von links) © Steffen Schwab | Steffen Schwab

„Für Erinnern und Gedenken gibt es keinen Ruhestand“, sagt Friedemann Hillnhütter denn auch. Die Alten bleiben dran und rücken falsche Bilder zurecht. Der Nazi als außergewöhnlicher Typ, ein Ungeheuer? „Nein, meine Lieben, das ist nicht so.“ Der Nazi ist der biedere Nachbar. „Und keiner“, sagt Hillnhütter mit Blick in die Runde von heute, „soll denken, er wäre garantiert auf der richtigen Seite gewesen.“

Astrid Collenberg schlägt den Bogen in die Gegenwart zu der Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine: „Ich bin froh und dankbar, dass wir in Kreuztal eine starke Gemeinschaft sind, die vielen Geflüchteten mit Toleranz, Nächstenliebe und Menschlichkeit begegnet sind und es weiterhin tun. Dass wir ihnen Hoffnung auf eine Zukunft schenken und nicht nur ein Dach über dem Kopf.“ Mit solchen Nachbarn wäre Fred Meier bestimmt gern alt geworden.

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