Siegen. Wenn an den Feiertagen nur die Kinder der anderen spielen: Für ungewollt kinderlose Paare kann diese Zeit sehr belastend sein.

An den Feiertagen wird es oft besonders schlimm. Wenn alle ihre Kinder mitbringen und die Kleinen fröhlich um den Baum oder die Kaffeetafel versammelt sind, wenn vielleicht die Schwägerin mit dem Baby da ist und es liebevoll im Arm hält. Für ungewollt kinderlose Paare können die Feiertage eine Belastung sein, weiß Heike Tönnes von der Kinderwunschberatung der Ehe-, Familien- und Lebensberatung (EFL) des evangelischen Kirchenkreises Siegen; wenn sie sehen und geballt und hautnah miterleben, was ihnen selbst verwehrt bleibt.

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Wer Beratung sucht

„Zum Teil ist es ein innerer Kampf“, sagt die Diplom-Sozialpädagogin. Schon die Vorstellung, zu den Familienzusammenkünften zu gehen, mache manchen Betroffenen Angst. Dabei ist es nicht nur der Gedanke daran, mit dem Idyll der anderen konfrontiert zu sein, wie die Expertin betont. Frauen und Männer, die sich sehnlichst eigene Kinder wünschen, aus welchem Gründen auch immer jedoch (bisher) keine bekommen haben, hadern oft auch mit Gefühlen, die in der Gesellschaft abschätzig betrachtet werden, die die Situation aber nun einmal in ihnen auslöst. Neid. Wut. Das wiederum kann Schuldgefühle verursachen. Und manche stellen sich die Frage „Bin ich ein schlechter Mensch?“, wie Heike Tönnes erläutert.

„Wann kriegen wir endlich Enkel?“

Nicht nur komplett Kinderlose kommen zur Kinderwunschberatung. Manche Paare haben schon eins oder mehrere Kinder und wünschen sich ein weiteres, bekommen aber keins.

Auch Paare, die auf eigenen Wunsch keine Kinder haben, würden oft mit anderweitigen Erwartungen von außen konfrontiert, sagt Heike Wißen. Der Klassiker: „Wann kriegen wir denn endlich Enkel?“ Auch in solchen Fällen helfe ein offenes Gespräch, idealerweise unter vier Augen, um Familienmitgliedern deutlich zu machen, falls man solche Äußerungen als grenzüberschreitend empfindet – erst recht, wenn diese in größerer Runde fallen. Gerade Frauen würde oft explizit oder unausgesprochen signalisiert, dass sie nach Meinung anderer doch gefälligst Kinder haben wollen müssten. Irrtum. Müssen sie nicht.

Vor Informationen aus dem Internet, die nicht aus nachgewiesen seriösen Quellen stammen, warnt Heike Wißen. „Da findet man auch schon mal Sachen, die nicht auf dem neuesten Stand sind“, formuliert sie diplomatisch. Auf jeden Fall sollten Betroffene Rat bei Fachleuten suchen.

Die Kinderwunschberatung der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle des Evangelischen Kirchenkreises Siegen sitzt in der Burgstraße 23. Zu erreichen ist sie unter 0271/250-280 und info@efl-siegen.de. Weitere Infos gibt es auf ev-efl-siegen.de

Die eigenen Gefühle, die eigenen Gedanken aussprechen und annehmen dürfen, ist ein wesentlicher Aspekt bei der Kinderwunschberatung der EFL. „Man darf auch erst einmal böse sein. Man darf fragen; ,Warum trifft das ausgerechnet uns?’“, betont Heike Tönnes.

Heike Tönnes (links) und Heike Wißen stehen ungewollt Kinderlosen zur Seite. In der Kinderwunschberatung der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle des evangelischen Kirchenkreises Siegen schaffen sie einen Rahmen, um offen über Gefühle, Ängste und Konflikte zu sprechen und Perspektiven zu entwickeln.
Heike Tönnes (links) und Heike Wißen stehen ungewollt Kinderlosen zur Seite. In der Kinderwunschberatung der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle des evangelischen Kirchenkreises Siegen schaffen sie einen Rahmen, um offen über Gefühle, Ängste und Konflikte zu sprechen und Perspektiven zu entwickeln. © WP | Florian Adam

Das Beratungsangebot für ungewollt kinderlose Paare gibt es seit etwas mehr als zehn Jahren. Auch vorher sei das Thema immer wieder in Beratungen zur Sprache gekommen, doch 2011 wurde es professionalisiert und ist vom Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland (BKiD) zertifiziert. Das Team leistet psychosoziale Unterstützung – für medizinische Fragen sind andere Expertinnen und Experten zuständig. Wann Paare den Weg in die Beratungsstelle finden, variiert. Manche kommen schon vor dem ersten Behandlungsversuch, manche nach dem zweiten oder dritten. Und bei wieder anderen bricht die Trauer über den unerfüllten Kinderwunsch vielleicht erst in einer viel späteren Lebensphase durch.

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„Es geht darum, eine Sprache zu finden“, erklärt Diplom-Sozialarbeiterin Heike Wißen vom EFL-Beratungszentrum in Olpe. In der Kinderwunschbehandlung gibt es diverse Schritte und Möglichkeiten, die unterschiedlich stark in den Körper eingreifen und die Psyche unterschiedlich berühren. Gerade Letzteres ist ohnehin sehr individuell. Aber angefangen von der Hormonbehandlung über künstliche Befruchtung bis zur Samenspende gibt es verschiedene Stufen, die jeweils andere Fragen bei betroffenen Männern und Frauen aufwerfen können. Anfangs überwiege bei Paaren noch die Hoffnung, sagt Heike Tönnes. Dass die Behandlung sie belasten könne, hätten viele nicht auf dem Schirm. Doch je länger es dauert, je länger der Erfolg ausbleibt, um so stärker würden viele spüren: „Es reißt mich runter.“

Für viele Menschen sei der Wunsch nach eigenen Kindern fester Teil des Lebensentwurfs. Einen Beruf ergreifen, einen Partner finden, vielleicht ein Haus bauen oder kaufen und dann Nachwuchs haben – den klassischen Ablauf empfinden viele als erstrebenswert. Wenn es ausgerechnet mit dem Baby nicht klappt, trifft das die Menschen an einem ganz fundamentalen Punkt. „Unfruchtbarkeit wird von vielen Frauen und Männern als schlimmste emotionale Krise empfunden“, sagt Heike Tönnes. „Wenn das ersehnte Kind nicht kommt, wird das oft gleichgesetzt mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen.“ Vielen Paaren kann mit Behandlungen geholfen werden. Doch einerseits kann das dauern – und andererseits: eben nicht allen. Das bedeutet zusätzliches Leid, wie Heike Wißen hervorhebt: „Wenn man hilflos ist und merkt: Man kann es nicht beeinflussen.“

Was Beratung leistet

All die Gefühle, die Hoffnungen, die Enttäuschungen, die Wut und die Trauer finden in der Kinderwunschberatung einen geschützten Raum. Und die Expertinnen helfen den Paaren auch, gemeinsam ihre jeweils eigenen Wege für den Umgang mit der Situation zu finden. „Frauen fallen oft in ein Loch. Männer meinen dann, sie müssten aktiv etwas machen, damit die Frau sich besser fühlt“, beschreibt Heike Tönnes ein recht verbreitetes Muster. Doch häufig sei das gar nicht der Fall. Viele Frauen hätten an den Mann den Wunsch: „Du musst nichts tun. Du musst einfach nur da sein.“ Und solche Aspekte im Gespräch zu klären, könne bereits sehr entlastend sein.

Offen reden können: Offen miteinander reden zu können sei auch in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen für ungewollt Kinderlose eine Hilfe. Wenn sie etwa feststellen, dass sie an den Feiertagen nicht zum Familientreffen gehen können, sei es völlig in Ordnung, aus dem Automatismus oder der Tradition auszubrechen und sich selbst zu schützen. Jeder und jede muss dann einen Weg finden, um das innerhalb der Familie und der dort herrschenden Erwartungen zu kommunizieren. „Oft haben Menschen emotionale Schwierigkeiten, wenn es um Erwartungen geht – eigene und fremde“, erläutert Heiße Wißen. Wie mit Problemen umzugehen ist, die sich daraus ergeben, sei ebenfalls Thema der Beratung.

Rote Linien ziehen: Die offene Kommunikation über die eigenen Bedürfnisse und roten Linien ist natürlich nicht nur in Bezug auf die Feiertage sinnvoll. Die Frage „Wann ist es denn bei Euch endlich soweit?“ kommt in der Regel ebensowenig gut an wie „gute Tipps“, wie Heike Tönnes ironisch formuliert. Plattitüden der Kategorie „Fahrt doch mal in den Urlaub“ oder „entspannt Euch doch mal, dann klappt das schon!“ mögen nicht böse gemeint sein, überschreiten aber trotzdem Grenzen. „Oft ist da ganz viel Bewertung mit drin“, sagt Heike Wißen. Außenstehende aber „sollten Vertrauen haben in Leute, die ungewollt kinderlos sind – darein, dass die sehr gut informiert sind“. Wer mit Betroffenen redet, muss vielleicht ein Stück weit mit einer eigenen Hilflosigkeit umgehen, kann dies aber auf konstruktive Art tun. „Ich kann mich nicht in Dich hineinversetzen“, gibt Heike Tönnes ein Beispiel für einen solchen Ansatz. „Aber ich kann mitfühlen. Kann ich etwas für Dich tun? Sag mir, was Du brauchst.“

Perspektiven entwickeln: Falls der Kinderwunsch final unerfüllt bleibt, kann auch das Inhalt der Kinderwunschberatung sein. „Manche Paare können sich erst um einen Plan B kümmern, wenn sie hoffnungslos sind“, merkt Heike Wißen an. Dann gilt es, Trauer zu bewältigen, vielleicht mit einem Ritual abzuschließen – und neue Perspektiven zu entwickeln. Über die nicht selten jahrelange Beschäftigung mit dem Thema, über die Behandlungen, die viel Zeit, Energie und auch Geld in Anspruch nehmen, sind andere Aktivitäten oft in den Hintergrund gerückt: Hobbys, Interessen, vielleicht die Paarzeit und das Sexualleben. Die Statistik gibt an dieser Stelle Grund zur Hoffnung, wie Heike Wißen sagt: „Langfristig sind ungewollt kinderlose Paare nicht unglücklicher.“ Die gemeinsamen Anstrengungen, selbst wenn sie letztlich nicht zum eigentlich gewünschten Ergebnis geführt hätten, würden vielen Paare auch zeigen: „Wir haben so gut zusammengehalten und als Paar so gut funktioniert.“

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