Netphen. „Ein Schluck Heimat“: Das Siegerland war schon immer Bier-Land. Im Netphener Museum wird Kneipengeschichte lebendig. Und zu Trinken gibt’s auch.

„Netphen findet Stadt“. Der Bierdeckel mit diesem Slogan ist um den 1. Januar 2000 herum auf die Theken gelegt worden. „Willst du mir mir gehen?“, hat jemand mit Kuli oben drüber geschrieben. „Frag mich morgen noch mal“, steht unten als Antwort. Die seien alle echt, beteuert Lothar Schulte, beim Blick auf die stattliche Bierdeckelsammlung, die gerahmt im Ausstellungsraum des Heimatmuseums in Netphen hängt – allerdings ohne Stein und Bein darauf zu schwören. Dazu ist Lothar Schulte, der gemeinsam mit Nicole Schmallenbach und Harald Gündisch das Museumsteam des Heimatvereins Netpherland bildet, dann doch zu sehr Pfarrer.

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Wie das Museumsteam aufs Bier kommt

„Ein Schluck Heimat – wie Bier unser Leben prägt“, ist das Thema der Sonderausstellung, die bis Ende Februar zu sehen ist: Deckel, Krüge, Flaschen, Werbeartikel vom Aschenbecher bis zum Feuerzeug. Ein weiterer großer Rahmen mit Fotos von Netphener Kneipen, von denen es die meisten nicht mehr gibt. Eine Zeittafel und Filme zum Thema auf der Mediensäule. Und Geräte: einen Topf, den sie als Braukessel verwendet haben, einen Läuterbottich und einen Gäreimer. Gleich am zweiten Tag der Ausstellung fand ein Brauseminar statt. Weil längst nicht alle, die mitmachen wollten, auch Platz fanden, wird es eine zweite und vielleicht auch eine dritte Auflage geben. Erst nach sechs Wochen Reifezeit werden die 15 Liter Museumsbräu sozusagen thekenreif sein. „Wir haben das aber als Jungbier schon probiert“, gibt Nicole Schmallenbach zu. Jede Woche eine Flasche. „Es verändert sich.“ Und schmeckt.

Brauereien im Siegerland

Weidenauer Brauerei GmbH: 1890 gebaut, 1906 erweitert, 1916 geschlossen. Von 1991 bis 2020 als „Altes Brauhaus“ Standort des Kunst-Departments der Uni.

Siegener Aktien-Brauerei: 1846 an der Hagener Straße gegründet, bis 1914 auch Eigentümerin des „Vergnügungs-Etablissement“ Kaisergarten, 1959 Übernahme durch die Krombacher Brauerei, 1965 Schließung, 1980 Abriss, heute Lidl-Standort.


Krombacher Brauerei:
1803 als „Hasbrauerei“ gegründet, seit 1891/92 „Krombacher Pilsener“, 1922 Übernahme durch Bernhard Schadeberg.


Brauerei und Brennerei Friedrich Irle:
Seit 1693 in Marienborn, 1998 geschlossen und durch das „Sudwerk“ ersetzt, 2022 von Klaus Irle an Jan Klappert verkauft.


Ilsen-Brauerei:
1994 von Ludger Groß-Bölting in Littfeld eröffnet.


Erzquell-Brauerei Siegtal Haas:
1885 in Niederschelderhütte gegründet, 1930 Übernahme durch Carl Haas, Eigentümer der Adler-Brauerei in Bielstein. 1976 wurde die Bielsteiner Brauerei in Erzquell-Brauerei Bielstein und die Siegtal-Brauerei in Erzquell-Brauerei Siegtal umbenannt. Seit 1979 Erzquell-Pils.


Eichener Brauerei:
1888 als Eichener Hammerbräu gegründet, 2022 an die Krombacher Brauerei verkauft, 2014 geschlossen. Bis 2017 wurde noch „Eichener Pils“ in Steinfurt gebraut.

Was ist los mit den Museumsleuten? „Wir wollten mal wieder was Leichtes machen“, sagt Lothar Schulte, nachdem das Heimatmuseum sich zuletzt intensiv dem jüdischen Leben im Netpherland gewidmet hatte. Wobei es mit dem Brauen und Trinken nicht getan sein soll. „Kneipenkultur ist auch unser Thema“, sagt Nicole Schmallenbach. Beziehungsweise deren Untergang. Manchen Häusern sieht man gar nicht mehr an, dass da Menschen zum Bier am Tresen zusammengekommen sind. Von 16 Gaststätten im Kernort Netphen ist nur eine übrig geblieben: das Keiler House. Mit den „Stammtischgeschichten“ am 11. Dezember und den „Geschichten rund ums Bier“ am 28. Februar wollen sie ein bisschen davon im Museum wieder lebendig machen – extra dafür steht auch eine Theke im Raum.

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Was der Netphener Ortspolizist erzählen kann

An der Theke miteinander reden – das war das, was die Kneipe ausmachte, erinnert Nicole Schmallenbach. Im Dezember werden die ehemaligen Gastwirte und ihre Nachkommen dazu eingeladen – und natürlich auch ihre Gäste. Lothar Schulte freut sich auch auf Bernd Melchert. Der Presbyter und ehemalige Ortsvorsteher war Polizist, „er kannte alle Kneipen und wird aus der anderen Perspektive erzählen.“ Bestimmt auch über die „Burg“ in Oelgershausen, wo sich zur Zeit des Talsperrenbaus die dort eingesetzten Arbeiter trafen. „Da muss es ganz schön rund gegangen sein.“ Im Februar wird es dann unter anderem um die Londoner Bierflut gehen: Im Hafen war 1814 ein 600-Liter-Fass geplatzt, durch den Druck explodierten weitere Fässer, eine Million Liter Bier ergossen sich in die Straßen, acht Menschen kamen ums Leben.

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Wo der Teufel mittrinkt

Durch die Gärung entstand richtig Druck“, sagt Nicole Schmallenbach. Das Museumsteam ist tief ins Thema eingestiegen. Lothar Schulte hat über Brauer gelesen, die als Hexen verfolgt wurden. Die einen, weil ihnen das Brauen immer, die anderen, weil es ihnen fast nie richtig gelang. „Immer war der Teufel im Spiel.“ Der sechszackige Brauerstern, auch Zoiglstern genannt, hat den entsprechend mystischen Hintergrund – ein alter Bierkasten der Irle-Brauerei trägt ihn noch, der Netpher Hof hieß früher „Zum Stern“, nach dem Stern-Pils aus Essen, das dort ausgeschenkt wurde. „Spannend war auch der Blick aufs Reinheitsgebot.“ Nur Hopfen, Wasser und Malz gehört ins deutsche Bier, selbst von Hefe war noch keine Rede. Vorher wurde manchmal Vogelkirsche und Bilsenkraut beigemischt, um eine Rauschwirkung zu erzeugen. Apropos: Natürlich, räumt Pfarrer Lothar Schulte ein, hätte das Blaue Kreuz gut zu der Ausstellung gepasst. Der Platz reichte einfach nicht mehr aus.

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Warum Bäcker beim Brauen Steuern sparen

Es gab viele Brauereien im Siegerland, „einfach weil das Wasser so gut war“, sagt Lothar Schulte. Erst in Verbindung mit Gasthäusern, wie zum Beispiel Krombacher, Irle und Bosch, später auch gern in der Nähe von Industriebetrieben mit durstigen Arbeitern. „Hammer-Bräu“ hieß das Bier aus Eichen zuerst, bevor es Eichener Pils wurde. Bier war nicht von Anfang an Genuss-, sondern erst einmal Lebensmittel. „Reiner und verträglicher als Wasser“, sagt Nicole Schmallenbach, die ein Biersuppen-Rezept auch schon selbst ausprobiert hat. Auf den Alkoholgehalt kam es da erst einmal gar nicht an – oft gelang die Gärung auch gar nicht erst. Am erfolgreichsten waren die brauenden Bäcker, weil sich bei ihnen die Hefesporen gut in der Back- und Braustube verteilten. Dass es da bei den Zutaten Überschneidungen gab, war auch aus einem finanziellen Grund praktisch. Die auf Bier erhobene Steuer wurde nach dem „Rohstoffeinsatz“ bemessen. „Wenn die Brauerei in der Bäckerei war, war das nicht so einfach", schmunzelt Harald Gündisch. Ach ja: Der Netphener Ortsteil Brauersdorf hat übrigens mit dem ganzen Thema überhaupt nichts zu tun.

Am 29. Januar findet im Museum ein Bier-Tasting als Blindverkostung statt: „Reine Geschmackssache“. Und am 10. Februar führt ein Ausflug in die kleine Edertal-Brauerei nach Beddelhausen. Wer mitfahren will: heimatmuseum@heimatverein-netpherland.de

Kneipen in Netphen: Nur eine bleibt übrig

Heimatforscher Wilfried Lerchstein arbeitet an einer Veröffentlichung zu den Gaststätten in Netphen. Hier eine Auswahl:

Netpher Hof: Die Gastwirtschaft und Bäckerei mit Kolonialwarenladen von Leo Brachthäuser und seiner Ehefrau Margarete (Dollar-Gretche“) war erstes Haus am Platz. Von Werner Unkel gekauft, führte sein Sohn Andreas Unkel bis zur Schließung 2007 den Netpher Hof. Das von der Firma Demler erworbene Gebäude wurde 2008 abgebrochen.

Gasthof Beyer: Das langgestreckte Haus lag an der Lahn-straße/Ecke Amtsstraße, genau auf der Grenze zwischen Nieder- und Obernetphen Um 1990 wurde es abgerissen, heute steht dort das Gebäude des Steuerbüros Friedrich.

Museumsteam stößt an: Nicole Schmallenbach, Harald Gündisch, Lothar Schulte
Museumsteam stößt an: Nicole Schmallenbach, Harald Gündisch, Lothar Schulte © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Bruchs Café: Anfang 1997 hatte Susanne Pickardt, geborene Bruch, die Idee, in Netphen ein Café zu eröffnen. Da ihre Tante, Angela Bruch ihr Textil- und Kurzwaren-Geschäft aufgeben wollte, waren Räumlichkeiten und Name des Cafés schnell gefunden. Es bestand bis 2022.

Gasthaus Büdenbender: Die Gaststätte auf dem Kirchrain wurde auch „Balkenbude“ genannt. Sie bestand bis etwa 1970. Die letzten Wirtsleute waren die Eheleute Fritz und Helene Büdenbender, geb. Eling, genannt „Wabbelersch Leni“.

Gaststätte Krippendorf: An der Netphe betrieben Eugen und Luzie Schmidt ihr Speiselokal mit Konditorei und Kegelbahn. Das Gebäude wurde abgebrochen. In den Neubau an derselben zog ein Combi-Markt ein, daraus wurde das Haus Bethanien.

Gasthof St. Petersplatz: Eine Institution in Netphen war „det Iddchen“ (Ida Werthenbach). Um 2004 wurde dort das letzte Bier gezapft.

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Gasthof Wilhelm: Die jüdischen Eheleute Max und Margot Hirsch wanderten 1935 aus. Ulrich Eling übernahm etwa im Jahr 2000 die ehemalige Gaststätte Wilhelm an der Kronprinzenstraße als Bäckerei.

Jägerhof: Das Hotel, Café und Restaurant wurde betrieben von dem Ehepaar Kraul, Frau Kraul war Jüdin. Sie emigrierten. Bei „Schubberts“, so der neue Hausname, wurde auch Prostitution betrieben. Die benachbarte evangelisch-reformierte Kirchengemeinde kaufte um 1966 das Haus und richtete dort Mietwohnungen ein.

Keiler House: In dem ehemaligen Wäsche- und Bettengeschäft Kölsch an der Lahnstraße betreibt Frank Kretschmer seit 2014 die Sports- und Musikbar. Vorher führte er die Gaststätte Em Fässche (Kutscherstube)

Landgasthof Wagener: Anna Milkovic (vorher: Ratskeller) wurde 2003 letzte Pächterin des Gasthofs gegenüber der Grundschule Niedernetphen. Das Haus steht seit einigen Jahren leer.

Zo dr Maartschänke: Besitzerin war Leni Büdenbender. Danach übernahm die Wirtschaft das Ehepaar Hinkel, welches später das „Laternchen“ in Siegen führte. Neue Besitzer tauften das Haus um auf den Namen „Stella“. Dort befindet sich nun das Restaurant „Lahori Masala“.

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