Siegen-Wittgenstein. Meinungswechsel im Siegener Kreishaus: „Deine Karte SiWi“ ist vielleicht doch nicht so vorteilhaft – wer sie nutzt, offenbart seine Bedürftigkeit.

Es wird wohl so schnell nichts mit einer verbesserten, barriereärmeren Teilhabe an sozialen und kulturellen Leistungen im Kreis Siegen-Wittgenstein. Zumindest nicht im Rahmen von „Deine Karte SiWi“, die es bedürftigen Kindern und Jugendlichen ermöglichen sollte, leichter am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen.

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Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket stehen hilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen zwar verschiedene Leistungen im soziokulturellen Bereich zu – die Mittel wurden aber längst nicht alle abgerufen. „Deine Karte SiWi“ sollte das ändern. Aus Sicht der Kreisverwaltung täte es das aber nicht: Sie schlägt vor, den entsprechenden Kreistagsbeschluss aufzuheben. Beraten wird darüber am Mittwoch, 7. September, ab 17 Uhr im Sozialausschuss, der in der Siegener Lyz-Aula tagt.

Das Prinzip von „Deine Karte Siwi“: Rabatt bei Musikschule und Sportverein

Unter-18-Jährige, die Anspruch auf staatliche Leistungen haben, erhalten ein Budget über maximal 15 Euro monatlich – zum Beispiel für Musikunterricht, Mitgliedschaft in Sportvereinen oder die Teilnahme an Freizeiten. Das musste bis 2019 bei der Kreisverwaltung Siegen-Wittgenstein beantragt werden, beim Amt für Beschäftigungsförderung, die das Geld dann auszahlte. Nach einer Gesetzesänderung wurde die Summe dann, auf Antrag, pauschal überwiesen.

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Mit einer Bildungskarte würden Eltern eine Karte erhalten, auf der der maximale Jahresbetrag von 180 Euro gespeichert ist, von dem dann für die Aktivitäten abgebucht würde. Die Grünen verweisen in einem neuerlichen Antrag an den Kreis-Sozialausschuss auf die „YouCardHamm“: Die Stadt hat ein Portal geschaffen, in dem Angebote und Leistungen aufgeführt sind; Berechtigte müssen ihre Karte dann einmalig vorlegen, die Abrechnung läuft automatisch – im Grunde eine Art Kartenzahlung. Die Leistungen in Siegen zu beantragen, so die Grünen, sei hingegen kompliziert und stigmatisierend, „Deine Karte“ sollte einen möglichst barrierefreien Zugang zu den Leistungen einfach und praktisch gewährleisten.

Die Vorgeschichte: Zuschüsse werden in Siegen-Wittgenstein kaum genutzt

Bundesweit würden nur 15 Prozent der berechtigten Kinder und Jugendlichen (6 bis 14 Jahre) die Leistungen zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben nutzen, hatte der Paritätische Wohlfahrtsverband 2018 herausgefunden. Für Siegen-Wittgenstein betrug diese Quote nur 1,4 Prozent, was 39 Personen entspricht. In Hamm seien es 91,3 Prozent. Die Kreisverwaltung hatte allerdings selbst Untersuchungen angestellt und war auf eine Quote von 18,5 Prozent gekommen.

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Gleichwohl beschloss der Kreistag 2020 einen Prüfauftrag, 2021 dann die Einführung von „Deine Karte SiWi“. Ein Antrag der Linken auf pauschale Auszahlung aller Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes habe den Prozess dann verzögert, so der Kreis. Ende 2021 sei ausgeschrieben, der Auftrag im Februar vergeben worden. Wegen der zusätzlichen ukrainischen Geflüchteten habe die Einführung weiter verschoben werden müssen, zuletzt auf September.

Grüne sind überrascht

Die Grünen-Kreistagsfraktion zeigt sich „überrascht“ über die Beschlussvorlage. Mehrmals sei über den Sachstand, die Ausschreibung, die Auswahl der Software, die Schulung der Mitarbeitenden bis hin zum angekündigten Start erst zum 1. Juni, später zum 1. September, berichtet worden. Der „plötzliche Richtungswechsel“ der Verwaltung sei „völlig neu“.

Sozialausschussvorsitzende Meike Menn (Grüne) kritisiert, dass die Fachausschüsse nicht früher beteiligt worden seien. „Klar im Vordergrund“ stehe, verstärkt die Bundesmittel für Freizeitaktivitäten der Kinder und Jugendlichen mit einem unbürokratischen Zugang abzurufen. „Der Erfolg des nun von der Verwaltung favorisierten Vorgehens wird sich sicherlich deutlich in den nun zu erwartenden steigenden Antragszahlen widerspiegeln.“

Stand der Dinge: Bildungskarte hat laut Kreis Siegen-Wittgenstein auch Nachteile

Auf die Einführung der Bildungskarte – deren Zielsetzung grundsätzlich richtig und begrüßenswert sei – sollte nun aber verzichtet werden, schreibt die Kreisverwaltung in ihrer Vorlage und führt dazu mehrere Gründe an.

• Bislang wurden jährlich maximal 180 Euro Pauschale an die Eltern überwiesen, die das Geld dem Bedarf entsprechend verwendeten. Die Vereine wiederum hätten keine Kenntnis von der Bedürftigkeit der Kinder – mit einer Karte müssten diese sich aber entsprechend zu erkennen geben. Genau das sei problematisch, argumentiert der Kreis, denn Familien müssten sich „outen“. Für Leistungsempfänger sei es aber sehr wichtig, dass sie genau nicht in dieser Weise erkennbar seien, viele fürchteten Stigmatisierungen. Transferzahlungen würden laut einer Studie deutlich weniger in Anspruch genommen, wenn dies öffentlich sichtbar sei. Statistisch würden zwar mehr Fälle generiert, aber dass mehr Leistungen in Anspruch genommen werden, sei daraus nicht zwingend abzuleiten. Zudem werde das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unterlaufen.

• Die Vereine und Anbieter der Leistungen müssten, so der Kreis, zusätzlichen Aufwand rund um das Onlinesystem betreiben. Ungeklärt sei das Vorgehen, wenn ein Anbieter das nicht wolle.• Das derzeitige System sei „weitestgehend entbürokratisiert“, über Anträge werde schnell und effektiv im Sinne der Berechtigten entschieden, die Verwaltung helfe und berate persönlich. Probleme, die soziokulturellen Leistungen in Anspruch zu nehmen, seien nicht bekannt.

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• Die Software einzuführen, würde knapp 15.000 Euro kosten, dazu kämen zusätzlich monatliche Lizenzgebühren sowie weitere rund 25.000 Euro jährlich zu anfallenden Fragen und Problemen.

Die Kreisverwaltung schlägt, um den Bekanntheitsgrad der Leistungen zu erhöhen, eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit vor. Auch solle unter anderem eine Broschüre in einfacher Sprache mit Fallbeispielen erstellt werden, auch in Ukrainisch.