Netphen. Nach dem Abi für ein Jahr auf die andere Seite des Klassenzimmers: Michelle, Maya und Leon erzählen, was das mit ihnen macht.

Und nach den Sommerferien waren sie schon wieder da: Michelle Mucha, Maya Kandzia und Leon Reuter haben im Frühsommer 2021 gerade ihr Abitur am Gymnasium Netphen gemacht. Um ein paar Wochen später im Lehrerzimmer Platz zu nehmen. „Viele kannten uns ja schon“, erinnert sich die 19-jährige Michelle. Langes Herantasten an eine ungewohnte Umgebung? „Wir haben alle unsere Stundenpläne“, meint Maya, ebenfalls 19. Wie die Lehrerinnen und Lehrer auch. Leon, 20, ist wie seine Kolleginnen von der ersten bis zur sechsten Stunde im „Intensivraum“ eingeteilt. Oder er nimmt an Unterrichtsstunden teil – zu Beispiel in der 5. „Die brauchen jemanden, der sie ein bisschen führt.“

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Der Seitenwechsel: Unterstützung für Kinder mit Förderbedarf

Michelle, Maya und Leon sind die Bufdis dieses Schuljahrs am Gymnasium Netphen, die Bundesfreiwilligen, die formell bei der Stadt Netphen angestellt sind und für etwas mehr als 400 Euro Taschengeld ihren Bundesfreiwilligendienst leisten. Dass ihre Abiturienten und Abiturientinnen so schnell den Seitenwechsel vollziehen, ist für das Kollegium nichts Neues. Seit acht Jahren schon gibt es hier die Bufdi-Stellen: zwei für die Unterstützung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, neuerdings eine dritte für das Aufholen nach Corona. „Das läuft richtig gut“, sagt Schulleiter Eckhard Göbel, „weil wir Konzept und Strukturen haben.“ Dass das Gymnasium im nächsten Schuljahr nicht mehr „Schule des gemeinsamen Lernens“ ist, findet Sonderpädagogin Annedore Hellwig „wirklich schade“. Denn Inklusion ist auch gut für Kinder, die keine besondere Unterstützung brauchen, sagt sie: „Sie lernen, Rücksicht zu nehmen, für andere einzutreten.“

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„Ich wusste noch nicht, was ich wollte“, erklärt Maya, warum sie das Jahr mit dem freiwilligen Dienst eingelegt hat. Michelle und Leon ging es ähnlich. Michelle erzählt von einem Kind mit ADHS, Maya von einem mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, um das sie sich besonders gekümmert haben. Im Klassenraum Aufgaben bearbeiten, auch einmal mit dem Schützling rausgehen können, wenn gerade alles zu viel wird. „Das ist anfangs etwas komplett Neues gewesen“, sagt Leon. In den wöchentlichen Teamsitzungen tauschen sie sich mit Lehrkräften und anderen pädagogischen Mitarbeitenden aus. Liebevoll mit den Kindern umgehen, aber auch konsequent sein, Autorität entwickeln, Grenzen setzen: „Das musstet ihr lernen“, erinnert Annedore Hellwig.

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Die Erfahrungen: Fortschritte sehen, Grenzen ziehen

Im Silentium-Raum werden Hausaufgaben gemacht - ein fester Bestandteil der „Sicheren Zeit“ über Mittag und am Nachmittag für die Fünft- bis Siebtklässler, in der auch die Bufdis nach dem Unterricht eingesetzt sind. „Man erlebt die Kinder nachmittags offener“, weiß Diana Prinz, die das Betreuungsangebot seit 13 Jahren leitet. Die Bufdis unterstützen beim Lernen für die nächste Klassenarbeit und sind danach bei Spiel und Sport dabei.

Inklusion am Gymnasium

Die CDU/FDP-Landesregierung hat die Gymnasien weitgehend aus der Inklusion herausgenommen. Im Siegerland sind nur das Peter-Paul-Rubens-Gymnasium in Siegen und das Gymnasium Netphen dabei geblieben, an die Stelle des PPR rückt in Siegen das Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium.

In Netphen kann die Sekundarschule drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf je Klasse aufnehmen, also neun in drei 5. Klassen. Für die Gymnasien ist festgelegt, dass „in der Regel“ mindestens sechs Kinder pro Jahrgang inklusiv gefördert werden müssen, um für das gemeinsame Lernen anerkannt zu werden. Daraus ergibt sich aktuell für Netphen eine Mindestzahl von 15 Kindern, die nicht erreicht wird.

Nicht jede Stunde ist das ungetrübtes Vergnügen. Leon berichtet, wie er mit unangemessenem Verhalten von Kindern umzugehen lernt: „Da darf man nicht eskalieren.“ Die jungen Kräfte im Klassenraum sind halt altersmäßig den Schülerinnen und Schülern viel näher als die Lehrerinnen und Lehrer - da kommt es zu Situationen, in denen die Bufdis klar machen müssen, dass sie auf der anderen Seite stehen. „Das darf man nicht mit nach Hause nehmen“, rät Annedore Hellwig, „das A und O ist, nichts persönlich zu nehmen.“ Die langjährigen Profis wie Erzieherin Diana Prinz kennen die kritischen Situationen: „Wenn einem nur noch die Spucke wegbleibt.“ Und sagt dann den Satz, den Bufdis als ehemalige Schülerinnen und Schüler sicher gern hören: „Ihr hattet in der 5. Klasse nicht dieses Verhalten.“

Für 19 Kinder mit anerkanntem Förderbedarf und ein paar weitere, denen Unterstützung auch ganz gut tut, sind die Bufdis vor allem da. „Man konnte schön beobachten, wie sie sich weiterentwickeln“, stellt Maya fest. Michelle erinnert sich gern an das gemeinsame Plätzchenbacken zu Weihnachten und an die Süßigkeiten, die die Kinder zu ihrem Geburtstag mitgebracht haben. Leon hat mit der 7 d eine dreitägige Klassenfahrt nach Düsseldorf mitgemacht – dabei sind im die Kerzen der Kinder zugeflogen: „Alle schrien ‘Leon’“, als sie wieder zurück waren.

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Die Aussichten: Nun erst mal wirklich Ferien

In gut einem Monat ist ihr Bufdi-Jahr vorbei. „Ich wusste vorher wirklich nicht, was ich machen wollte“, sagt Leon, „jetzt habe ich ein paar Richtungen.“ Vielleicht wird er Lehrer, vielleicht Wirtschaftsjurist, vielleicht geht er zum Zoll. Maya hat sich zu einem Lehramtsstudium entschlossen: „Das Jahr hat mir echt geholfen.“ Michelle wird einen sozialen Beruf ergreifen – das Bufdi-Jahr hat ihr Zeit zum Luftholen gegeben: Der Acht-Stunden-Job belastet weniger als der Schulalltag in der Oberstufe unter Pandemie-Bedingungen.

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Nach und nach werden die Hausaufgaben fertig. Gleich werden alle raus gehen. Fußball. Fangen. Und Werwolf, das Strategiespiel. Es hört sich danach an, als ob dieser sonnige Nachmittag Spaß machen wird. Bald steht ein Abschied an, ein neuer Übergang. Maya und Michelle werden das mit einem gemeinsamen Urlaub auf Fuerteventura feiern, Leon macht Ferien bei seiner Familie in Armenien. Ihre Nachfolger sind schon so gut wie unter Vertrag: zwei Jungen und ein Mädchen aus dem aktuellen Abiturjahrgang. Wieder ein Rollenwechsel für ein spannendes Jahr.

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