Siegen/Burbach. Er habe Angst vor Vergiftung gehabt, sagt der alte Mann vor dem Landgericht Siegen. Die Polizei empfing er mit den Worten: „Ich bin der Schütze“.
„Hier. Ich bin es, die mit Ihnen redet“, ruft die Vorsitzende Richterin Elfriede Dreisbach in den Schwurgerichtssaal. Ein Hinweis darauf, dass es sich beim Angeklagten nicht um einen ganz typischen Fall handelt. Der Mann ist 89 Jahre alt. Ihm werden versuchte Tötung, gefährliche und einfache Körperverletzung vorgeworfen. Nicht etwa in der NS-Zeit allerdings: Der Vorfall hat sich am 4. November 2021 in einem Burbacher Ortsteil abgespielt. Der Mann hat bereits zugegeben, auf den Lebensgefährten einer seiner Töchter geschossen und sie verprügelt zu haben.
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Über das Warum wird jetzt im Gericht verhandelt. Erste Erklärungen zeichnen sich ab, die Konturen sind aber noch nicht fest. Damals hatte der alte Mann behauptet, vergiftet zu werden und sich dagegen wehren zu müssen.
„Wie eine Furie“ auf schießenden Vater gestürzt – stark blutender Partner hilft
Am Vormittag des 4. November sitzen die Tochter des Mannes und ihr Lebensgefährte im Arbeitszimmer ihrer Wohnung im ersten Stock des Einfamilienhauses und machen, „was Rentner so machen am PC“, erinnert sich die 66-Jährige. Sie hörte ihren Vater auf der Treppe, wunderte sich, warum der so lange braucht. Dann stand er in der Tür, mit einem Gewehr. „Wer hat mich vergiftet?“, brüllte der alte Mann. Ihr Partner stand auf, hob wie zur Abwehr die Hand, „da knallte es auch schon“. Das Opfer sei zu Boden gegangen, zu ihrer Überraschung nicht wieder hochgekommen. Sie bemerkte, dass ihr Gefährte blutete und sprang „wie eine Furie“ auf ihren Vater los, schaffte es aber nicht, diesen zu entwaffnen.
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Erst mit Hilfe ihres Partners, der trotz stark blutender Wunde wieder aufstand, konnten sie dem Greis das Gewehr wegnehmen und ihn in den Flur drängen. Der Polizei stellte er sich vor: „Ich bin der Schütze.“ „Der war noch stolz darauf. Er hat nichts ausgelassen“, sagt der Verletzte. Bis zu diesem Tag sei er mit seinem Quasi-Schwiegervater eigentlich gut ausgekommen. Seit 2016 lebte er dort.
Der alte Mann prügelt die eigene Tochter so schwer, dass das Gesicht schwillt
Das mit der Vergiftung sei länger Thema gewesen, berichtet die angegriffene Tochter, die von ihrem Vater so heftig geprügelt wurde, dass Augen und Nase geschwollen gewesen seien. Sie und ihr Partner wollen den alten Mann auf keinen Fall wieder im Haus haben. Das gehe einfach nicht, betonen beide. Seine Verletzung – die Kugel vom Kaliber 22 ging in den Hals und kam im Nacken wieder heraus – sei schon schlimm genug. „Ich hätte alle Schutzengel verbraucht, haben sie im Krankenhaus gesagt“, berichtet der Mann (73) und ist fest überzeugt, er hätte den Schuss in den Kopf bekommen, „wenn ich nicht aufgestanden wäre“.
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Dass der Angeklagte dann noch die eigene Tochter derart prügeln könne. Er ist sicher, dass der alte Mann auch die Tochter erschießen und die einschüssige Waffe dafür nachladen wollte, nur deshalb das Gewehr so vehement verteidigte. Als die Polizei eintraf, soll der Täter nur davon gesprochen haben, den Lebensgefährten „wegmachen“ zu müssen, um sich zu verteidigen. Die Tochter fand allerdings einige Tage nach dem Vorfall einen Briefumschlag, auf dem sinngemäß stand, er habe „sie umbringen müssen“. Es kümmere sich ja keiner um ihn.
Angeklagter vor Landgericht Siegen: „Weiß nicht, wer mir das in den Kopf gesetzt hat“
„Ich weiß nicht, wer mir das in den Kopf gesetzt hat. Ich kann doch niemanden umbringen. Das weiß ich doch“, sagt der Angeklagte und schüttelt den Kopf über das, was geschehen ist: „Was soll ich sagen. Es ist passiert.“ Er habe wohl einfach „nicht überlegt“. Auf die Frage, ob er immer noch an die Sache mit der Vergiftung glaube, kommt allerdings ein „Ja“.
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Gut zwei Jahre vorher war er offenbar von seiner Tochter auf der Couch gefunden worden, hatte sich übergeben und Durchfall, wurde ins Krankenhaus gebracht und isoliert. Ihm sei gesagt worden, er hätte die Grippe. Am Abend zuvor habe er bei seiner Tochter gegessen und sei direkt umgekippt, behauptet der Senior. Später noch einmal in seiner Wohnung, keiner habe sich gekümmert. „Ich hatte immer die Grippe, bis die Spritzerei anfing. Jetzt nicht mehr“, sagt er, sein Zustand sei damals anders gewesen, mit Schaum vor dem Mund. Danach wollte er herausfinden, was geschehen sei, wer ihn vergiftet hätte.
Angegriffene Tochter: Der Vater war immer ein schwieriger, streitsüchtiger Mann
Mit dem Lebensgefährten der Tochter sei er nicht zurechtgekommen. Alles sei anders geworden, der habe sich im Haus immer mehr herausgenommen. Ob es darüber Gespräche gegeben habe, fragt die Vorsitzende. „Nein, ich habe ihm gesagt, er soll sich zu Hause fühlen“, verneint der Angeklagte. Gepasst habe es ihm trotzdem nicht. Schon der frühere Ehemann der Tochter habe nichts getaugt, „immer zu viel Durst“.
Die Tochter berichtet von ständigem Streit, vor allem über Geld. Ihr Vater sei immer ein schwieriger und streitsüchtiger Mann gewesen. Ihre Mutter habe auch einiges ertragen müssen, der Vater die widerlichsten Dinge über sie erzählt. 65 Jahre seien die beiden bis zum Tod der Mutter verheiratet gewesen. „Sie konnten sich nicht voneinander lösen. Aber jetzt will er mich dafür erschießen. Das kann ja wohl nicht sein!“
Angehörige einig: Durch den Tod der Mutter wurde der Vater immer aggressiver
Eine ihrer Schwestern berichtet von Ostern 2021, als der Vater ihr eröffnet hätte, sie sei nicht seine Tochter. Danach sei der Kontakt abgebrochen. Eine dritte Tochter will von all diesen Dingen kaum etwas mitbekommen haben; versucht, möglichst wenig in ihre Aussage zu packen. Einig sind sich trotzdem alle Zeugen, dass der Tod der Mutter einen Einschnitt gebracht und den Vater aus der Bahn geworfen, deutlich aggressiver gemacht hätte.
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Der wiederum unterbricht die Zeugen immer wieder, Familienangelegenheiten gehörten nicht in die Öffentlichkeit.