Eiserfeld. An der Gesamtschule Eiserfeld gibt es Siegens wohl ungewöhnlichste AG: Florian Kurzke bringt Mitschülern Rollstuhlfahren bei – aus guten Gründen.

Die vier Jungs wuseln in den Rollstühlen vorm Tor herum. Das Spiel läuft zwei gegen zwei; bei jedem Schlag gegen den großen Gymnastikball gibt es ein sattes, leicht metallisches Plopp-Geräusch. Der Punktestand, der ist für Außenstehende zwar nicht ganz ersichtlich – aber darum geht es auch eigentlich gar nicht. Die Rollstuhl-AG der Gesamtschule Eiserfeld verfolgt andere Ziele.

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Auf den Rollstuhl angewiesen sind die Teilnehmenden alle nicht. Auch Florian Kurzke nicht. Der 18-jährige Oberstufenschüler leitet die AG für Fünft- und Siebtklässler. Im Rollstuhl bewegt er sich, als sei es für ihn die natürlichste Sache der Welt. Nun gut – ist es ja auch, wenn man ihm so zuhört. Seine Mutter Brigitte Van Assche, die bei den AG-Terminen oft ebenfalls dabei ist, sitzt seit 2016 im Rollstuhl. Vorangegangen war ein Schlaganfall im Jahr 2011. „Florian und sein Bruder sind damit groß geworden“, berichtet sie.

Florian Kurzke leitet an der Gesamtschule Eiserfeld die Rollstuhl-AG. Er möchte anderen nicht nur ein Gefühl dafür vermitteln, sondern ihnen auch Tricks beibringen – und zeigen, dass sich auch im Rollstuhl sportlich einiges machen lässt.
Florian Kurzke leitet an der Gesamtschule Eiserfeld die Rollstuhl-AG. Er möchte anderen nicht nur ein Gefühl dafür vermitteln, sondern ihnen auch Tricks beibringen – und zeigen, dass sich auch im Rollstuhl sportlich einiges machen lässt. © WP | Florian Adam

Siegen: Rollstuhl-AG an der Gesamtschule Eiserfeld – aus einem Scherz wird ein Angebot

Irgendwann, sagt Florian Kurzke, habe er sich mal probehalber in den Rollstuhl gesetzt, sei erst einmal hingefallen, habe es dann gelernt, mit seiner Mutter zusammen auch ein Mobilitätstraining im Rolli gemacht. Und weil er auf den Geschmack kam, habe er vorgeschlagen, „mehr aus Witz: Ich könnte doch eine AG machen“, erzählt er. Bei seiner Mutter, engagiert in der Schulpflegschaft, stieß er auf offene Ohren. Und bei der Schule auch.

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AGs seien ein sehr wichtiger Punkt des Schulprogramms, sagt Uschi Zingler, didaktische Leiterin der Gesamtschule Eiserfeld (GEE). Eigentlich übernehmen Lehrer diese Aufgabe, die Frage „Was können Sie sonst noch so?“ gehöre in jedes Vorstellungsgespräch, um direkt die Potenziale für diesen Bereich zu eruieren. Gerne dürfe es außergewöhnlich sein, „exotisch“, sagt Uschi Zingler. Und gerne dürfen auch Schülerinnen und Schüler den Job übernehmen (wobei eine Lehrkraft in verfügbarer Nähe ist, versteht sich). Voraussetzung: „Man muss schon Programm für ein halbes Jahr haben.“

Beim Wheelsoccer muss ein Gymnastikball ins Tor – ohne dass die Spieler selbstständig ihre Beine bewegen. Finn (links) ist hier in der Rollstuhl-AG an der Gesamtschule Eiserfeld ganz dicht dran.
Beim Wheelsoccer muss ein Gymnastikball ins Tor – ohne dass die Spieler selbstständig ihre Beine bewegen. Finn (links) ist hier in der Rollstuhl-AG an der Gesamtschule Eiserfeld ganz dicht dran. © WP | Florian Adam

Siegen: Florian Kurzke leitet Rollstuhl-AG an der Gesamtschule Eiserfeld seit drei Jahren

Florian Kurzke hat das. Spielend. Die Rolli-AG gibt es seit etwa drei Jahren. In der Pandemie lag sie logischerweise weitgehend auf Eis, doch schon vor Corona war die Resonanz beachtlich, wie der 18-Jährige anmerkt: Im ersten Jahr gab es vier Gruppen mit je acht Kindern. Eigentlich, sagt Uschi Zingler, sei es unter anderem darum gegangen, dass Schülerinnen und Schüler, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, und solche, auf die das nicht zutrifft, etwas gemeinsam machen. Dass jetzt nur Kinder aus letzterer Kategorie dabei sind, macht aber nichts, denn diese könnten ein Verständnis dafür entwickeln, wie der Alltag für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler im Rollstuhl ist, wie Brigitte Van Assche erklärt. „Das ist für mich gelebte Inklusion.“

Barrierearm

Die Gesamtschule Eiserfeld hat zwei Standorte: In der Talsbachstraße und Am Hengsberg.

Der Standort Talsbachstraße verfügt über zwei Aufzüge und ist weitgehend barrierefrei – auch wenn Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer manchmal Umwege in Kauf nehmen müssen.

Ganz entscheidend, dass wird schon in den ersten Sekunden offensichtlich, geht es aber auch um Spaß. Den hat Florian Kurzke, wenn er im Rollstuhl aktiv ist, und den möchte er weitergeben. „Man kann halt ganz viel machen“, sagt der junge Mann – wobei es zunächst natürlich erst einmal darum geht, sicher im Rollstuhl unterwegs zu sein und die Handhabung zu beherrschen. Wichtig sind in den AG-Stunden deshalb die Parcours-Übungen. Die Teilnehmenden müssen mit ihren Rollstühlen die Schwellen von Gymnastikmatten überwinden, und das idealerweise über mehrere aufeinanderfolgende Stufen. Dafür wiederum ist es erst einmal wichtig, mit dem Rollstuhl „kippeln“ zu können – also sich allein auf den großen Hinterrädern zu halten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.

Leon (links) und Florian fahren in der Rollstuhl-AG an der Gesamtschule Eiserfeld (GEE) durch flache Gymnastikreifen. Das ist schwieriger, als es aussieht.
Leon (links) und Florian fahren in der Rollstuhl-AG an der Gesamtschule Eiserfeld (GEE) durch flache Gymnastikreifen. Das ist schwieriger, als es aussieht. © WP | Florian Adam

Gesamtschule Eiserfeld: Rollstuhl-AG schafft Verständnis für Menschen mit Behinderung

Technik ist alles, es braucht den richtigen Schwung, die richtige Balance, das richtige Gefühl. „Es ist leichter zu lernen, wenn man etwas draufgängerischer ist“, sagt Florian Kurzke. Auch deshalb sei es sinnvoll, dass sich das Angebot an die Unterstufe richtet. Aber da er das Augenmerk auf Sicherheit legt, müssen sich selbst die Draufgänger keine Sorgen machen. Und wenn die Schülerinnen und Schüler die Grundbegriffe gelernt haben, geht es auch an Tricks und an Sportspiele. Badminton, Basketball – alles auch im Rollstuhl möglich. Heute steht „Wheelsoccer“ an, mit einem Gymnastik- statt einem Fußball.

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Die Rollstühle sind eine Dauerleihgabe, die Brigitte Van Assche für die Schule organisiert hat. Die Teilnehmer – an diesem Nachmittag sind drei Jungen da – haben sichtlich Vergnügen. Es geht ihnen aber um mehr. „Ich mache mit, weil wir an der Schule auch einen Jungen im Rollstuhl haben“, sagt etwa der 13-jährige Leon. „Ich wollte mich besser in seine Lage versetzten können.“ Ähnlich argumentiert der 12-jährige Florian: „Das ist eine neue Erfahrung. Ich konnte mir vorher gar nicht ausmalen, wie das ist.“ Finn (13) stimmt zu und kommt auch auf den sportlichen Aspekt zu sprechen: „Man braucht schon Kraft in den Armen“ – und die wird in der AG natürlich auch trainiert. Und was alle drei betonen: Es macht echt Spaß.

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