Siegen. Vor Gericht: Ein Siegener lernt online eine Nürnbergerin kennen – und bald werden aus der Liebelei Beleidigungen und Drohungen, auch mit dem Tod.

30 Minuten sind eine halbe Stunde. In der subjektiven Empfindung können sie aber viel schneller vorbei sein. Oder deutlich länger dauern. So ist es am Freitagmorgen im Siegener Amtsgericht. „Mir schwirrt gerade der Kopf“, sagt Oberamtsanwalt Markus Urner. Er hat nach den Ausführungen des Angeklagten keine Fragen mehr an ihn. Auch Verteidiger Carsten Marx schüttelt nur noch den Kopf: „Ich will nicht mehr“, hat sein Mandant gerade erklärt, was die Beziehung zur Geschädigten angeht. „Ich will auch nicht mehr“, stöhnt der Anwalt aus Gießen.

Siegen: Beteiligte diskutieren heftig miteinander auf Gerichtsflur

Am 3. November 2020 hat der Angeklagte (25) eine junge Frau per Chat extrem beschimpft, beleidigt und ihr gedroht. Er hat sie als Schlampe betitelt, mit diversen Zusatzausdrücken, sie als Hündin bezeichnet, auf die er spucke und ihr angekündigt, „die“ würden sie töten. „Das stimmt alles so“, erklärt Anwalt Marx für seinen Mandanten, entschuldigt die Ausfälle aber mit einer extremen Ausnahmesituation als Folge einer gescheiterten Beziehung.

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Beide seien sehr emotional, „wie wir vorhin sehen konnten. Sie haben sich offenbar noch viel zu sagen“. Tatsächlich haben die beiden Beteiligten auf dem Flur vor Saal 071 bereits heftig miteinander diskutiert, auf kurdisch oder arabisch oder syrisch, bis Marx „das junge Glück“ in den Raum gebeten hat. Selbst der bewährte Dolmetscher hat kein Wort verstanden, weil er diesen Dialekt nicht spricht. Er sitzt aber trotzdem eine Zeit neben dem Angeklagten, der zeitweise versucht, ihm sein Anliegen auf Deutsch verständlich zu machen.

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Gewisse Grundkenntnisse in der deutschen Sprache hat der junge Kurde aus Syrien aber durchaus. Und die bringt er auch an. „Ich muss reden, ich will reden“, macht er mehrmals in Richtung von Amtsrichterin Dr. Hanne Grüttner klar. Zwischendurch fragt er immer wieder: „Verstehst Du?“. Was aber allen nicht völlig gelingt. Alle Hintergründe müssten gar nicht erörtert werden, versucht der Verteidiger, die Sache etwas abzukürzen. Vergeblich allerdings, weil der Angeklagte eben reden will.

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Laut eigener Aussage kennt er die Frau offensichtlich seit zwei oder drei Jahren, hat sie über Snapchat kennengelernt, sie sich in ihn verliebt. Ganz eindeutig sei alles von ihr ausgegangen. Er wohnte in Siegen, sie in Nürnberg. Gesehen haben sie sich kaum. Er bemerkte auf Fotos aber immer wieder Kinder, die sie als fremde ausgegeben habe, um die sie sich kümmere. Später sei ihm dann von einem Freund in Nürnberg zugetragen worden, dass „diese Frau“ verheiratet sei und zwei eigene Kinder habe. Da sei sein Schützling völlig enttäuscht und voller Wut gewesen, betont der Verteidiger und ist sich nach den Erklärungen des Angeklagten sicher, dass die Geschädigte nie ernsthaft geglaubt hat, mit dem Tode bedroht zu werden.

Anwalt vor Gericht in Siegen: „Ich will es gar nicht wissen“

Seit der Post vom Gericht gebe es keinen Kontakt mehr zu „dieser Frau“, versichert der Angeklagte, was nach der Szene auf dem Flur allerdings eine gewisse Fragwürdigkeit hat. Aus den Akten gehe hervor, dass die Frau große Angst hatte, stellt die Vorsitzende fest und ist vor allem irritiert, dass es auch nach der Anzeige noch Drohungen gab, zum Beispiel verfängliche Videos an ihre Familie zu schicken. Das sei jetzt alles vorbei, unterstreichen Angeklagter und Anwalt. Wobei letzterer eher genervt Hoffnungen auszusprechen scheint. Marx schlägt eine Einstellung vor, die Oberamtsanwalt und Richterin auch befürworten, gegen 80 Arbeitsstunden.

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Der Anwalt geht mit dem Mandanten auf den Flur, die Zeugin kommt solange herein. Als sie dann den Raum wieder verlässt, grinst der Angeklagte und bekommt etwas von der Zeugin zu hören. „Auf kurdisch“ lacht er. „Ich will es gar nicht wissen“, wehrt Marx ab. Dann fällt die Entscheidung und die beiden gehen. Draußen wundert sich die Zeugin, nicht gehört worden zu sein. „Ich bin extra aus Nürnberg gekommen, um alles zu sagen. Er hat mich vorhin schon wieder bedroht“, sagt sie verzweifelt. Sie habe durch ihn bereits ihren Mann verloren, müsse Angst vor ihrer Familie im Irak haben, wenn er denen Videos schicke. Dann kommt der nunmehr nicht mehr Angeklagte zu ihr. Und es wird erneut diskutiert. Ist tatsächlich alles vorbei mit „dieser Frau“?

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