Kreuztal. Das Stadtteilbüro Kreuztal bietet Hilfe für Analphabeten an und tritt dem gesellschaftlichen Tabu, nicht lesen oder schreiben zu können, entgegen.

Im Alltag sind die Menschen auf das Lesen und Schreiben angewiesen. Sei es beruflich beim Beantworten von E-Mails oder privat beim Texten mit Freunden. Selbstverständlich ist das aber nicht. Denn jeder siebte in Siegen-Wittgenstein kann nicht richtig lesen oder schreiben. Das Mehrgenerationenhaus und Stadtteilbüro Kreuztal möchte dem entgegenwirken.

Kreuztal: Stadtteilbüro hilft „funktionalen Analphabeten“

Wer nur über eingeschränkte Lese- und Schreibfähigkeiten verfügt, ist – so der korrekte Sprachgebrauch – „gering literalisiert“. „Grundsätzlich ist das Wissen vorhanden, aber die meisten Personen wurden nicht bedarfsgerecht gefördert“, erklärt Tanja Bingener, studierte Deutschlehrerin und Projektkoordinatorin des Stadtteilbüros Kreuztal.

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Für „funktionale Analphabeten“ fühlt sich das Lesen so an, als wären die Buchstaben spiegelverkehrt. Betroffene müssen viel Konzentration aufwenden, um einzelne Wörter zu lesen. Sie können gelesene Informationen deshalb nur schwer verarbeiten. Je kleiner die Schrift, desto größer sei die Herausforderung.

Analphabetismus: So wirkt sich das Handicap aus

Bei Behördengängen geht häufig nichts ohne ausgefüllte Anträge. Aber durch die Sozialen Medien hat auch das Lesen und Schreiben von kurzen Nachrichten zugenommen. „Ohne ausreichende Sprachfertigkeiten wird man automatisch ausgegrenzt“, sagt Tanja Bingener. Für funktionale Analphabeten seien es vor allem kleingeschriebene und textintensive Dokumente, wie das Ausfüllen von Formularen beim Arzt und das genaue Lesen von Versicherungsschreiben oder Verträgen, die sie vor Herausforderung stellen.

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„Solche Texte sind aufgrund der komplexen Formulierungen für jeden schwierig“, betont die Projektkoordinatorin. Auch das Prüfen von monatlichen Rechnungen falle gering Literalisierten schwer. Daher hätten viele Betroffene schon im jungen Altern Schulden, erzählt Tanja Bingener. Probleme bereiten ihnen darüber hinaus auch Beipackzettel von Medikamenten. Das könne im schlimmsten Fall dazu führen, dass wichtige Medikamente falsch eingenommen werden.

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Viele sind bereits seit ihrer Kindheit betroffen und haben über die Jahre Strategien entwickelt, um nicht aufzufallen. Die meisten haben eine Vertrauensperson, die ihnen beim Ausfüllen oder Lesen von Unterlagen helfe. „Sprachnachrichten sind die einzige Möglichkeit für diese Menschen, um mit anderen zu kommunizieren“, sagt Tanja Bingener. Viele Betroffene könnten aus Schamgefühl nicht über ihre Schwäche reden. „Bei uns muss sich keiner für sein Handicap schämen, wir verurteilen niemanden“, so die Projektkoordinatorin.

Kreuztal: So wird Analphabeten geholfen

Das offene Lernangebot „ABC-Bingo“ des Stadtbüros Kreuztal soll den Betroffenen unkomplizierte Hilfe bieten. „Wir lernen zusammen das ABC und wenn die Hilfesuchenden es dann können – Bingo“, erklärt Tanja Bingener den Namen des Programms. In gemütlicher Runde werde im Lern- und Lesecafé gemeinsam Kaffee getrunken und miteinander gesprochen. Ein Gesprächspartner, denen die Betroffenen ihre Sorgen anvertrauen können, sei wichtig, weiß die Projektkoordinatorin. Das Lernmaterial ist auf das Sprachniveau angepasst. „Wir versuchen die Sätze so einfach wie möglich zu halten“, beschreibt Uwe Montanus von der Stadt Kreuztal. Im Rahmen des Projektes „einfach Politik“ wird mit einfachen Wortern erklärt, wie Wählen funktioniert. Auf praxis- und handlungsorientierte Aufgabenstellungen legt Tanja Bingener viel Wert.

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Anders als bei der Volkshochschule (VHS) können Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Standort in der Fritz-Erler-Siedlung anonym bleiben. „Wir bieten hier die Möglichkeit, mit Spaß und ohne Druck im Austausch mit anderen Betroffenen zu lernen“, betont Tanja Bingener. Viele haben es aufgrund ihres Handicaps verlernt zu lernen. Nun gehe es darum, Kompetenzen Stück für Stück aufzubauen. Das Lese- und Lerncafé sei ein Ort für neue Lernerfahrungen, bei dem jeder reinschnuppern könne.

Lese-Lerncafé

Seit 2019 findet das Lese- Lerncafé im Rahmen des Förderprojektes ABC-Bingo jeden Freitag von 14 bis 16 Uhr als Angebot für gering Literalisierte im Stadtteilbüro Kreuztal statt.

Durchschnittlich nehmen 25 Betroffene im Alter von 18 bis 64 Jahren an dem Angebot teil und lernen zusammen im Mehrgenerationenhaus richtig Lesen und Schreiben.

An der Jugendwerkstatt Siegen bietet Tanja Bingener Workshops an. „Funktionaler Analphabetismus ist nicht nur ein zentrales Problem der Erwachsenenbildung, sondern sollte auch in der Grundbildung von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt werden“, mahnt sie. Für Uwe Montanus, Leiter des für das Quartiersmanagement zuständigen Amtes bei der Stadt, handelt es sich um ein nachwachsendes Problem, für das das Schulsystem nicht ausgelegt sei. „Ich finde es nicht richtig, dass gering Literalisierte in der Schule direkt als dumm abgestempelt werden, nur weil sie einen höheren Förderungsbedarf haben.“

Hilfe für Analphabeten in Kreuztal: Mittel kommen vom Bildungsministerium

Die Mittel für das Bildungsangebot für gering Literalisierte stammen vom Bildungsministerium. „Das Projekt ABC-Bingo wird vom Kreis Siegen-Wittgenstein gefördert und ist ein Sonderschwerpunkt des Mehrgenerationenhauses Kreuztal“, erklärt Uwe Montanus. Darüber hinaus bietet das Stadtteilbüro Sensibilisierungsseminare in sozialen oder schulischen Einrichtungen an. „Es ist wichtig, die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, dass Analphabetismus ein weitreichendes Problem ist.“

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Tanja Bingener kritisiert, dass Analphabetismus in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle spiele. „Wir wollen Analphabetismus aus dem Tabu rausholen und unser Lernangebot für Betroffene sichtbar machen.“ Sensibilisierungsschulungen für Kitamitarbeiter seien bereits geplant.

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