Hilchenbach. Im Hilchenbacher Stadtarchiv ist der Nachlass von Hugo Holdinghausen angekommen. Wie der Leimfabrikant zum Stifter des Richard-Martin-Heims wurde.
„Es waren drei Umzugskartons“, berichtet Verena Hof-Freudenberg, „kaum zu heben.“ Die Hilchenbacher Stadtarchivarin wurde nach Mainz gerufen. Dort, an der Universitätsbibliothek, war der Nachlass von Hugo Holdinghausen gelagert worden. Ihm gehörte eine Leimfabrik in Hadem, und er ist der Stifter des Richard-Martin-Hauses. Mainz? Dort war Dr. Walter Menn von 1946 bis 1955 Bibliotheksdirektor. „Wir vermuten, dass er die Unterlagen dorthin mitgenommen hat.“ Denn Walter Menn, Verfasser der Hilchenbacher Stadtgeschichte von 1936, stammt aus Hilchenbach, wo Hugo Holdinghausen 1925 gestorben ist.
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Der Nachlass
Zwei Wochen lang haben sich Verena Hof-Freudenberg und Carina Vogel, die als Historikerin noch bis Oktober im Rahmen einer Reha mitarbeitet, für die Kartons Zeit genommen – fast schon ungewöhnlich lang, denn die Menge an Material, die in der Wilhelmsburg bereitgehalten wird, übersteigt jede Arbeitskapazität. „Das ist das Dilemma jedes Archivs“, stellt die Archivarin fest. Bei Holdinghausen allerdings wollte sie es wissen. Denn vor ihr lagen Unterlagen von fast drei Generationen, aus allen Lebensbereichen: „Da bekommt man richtig Alltagsgeschichte mit.“
Der Holdinghausen-Nachlass, der nun nach Hilchenbach zurückgekehrt ist, dürfte schon lange knapp vor der Entsorgung gestanden haben. Papiere waren zusammengerollt, Silberfische und Schimmel waren dabei, das Regiment zu übernehmen. „Wir haben erst mal alles umgebettet und eingefroren“, berichtet Verena Hof-Freudenberg, „und dann mit Handschuhen und Mundschutz gearbeitet.“
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Aus den drei Umzugskartons sind elf Archivboxen geworden. Die Liste mit dem Inventar ist lang. Rechnungen, Prospekte, private und geschäftliche Korrespondenz, Anwalts- und Gerichtsakten, Kassenbücher, Zeitungsausschnitte. Schon die Überschriften machen neugierig auf den Menschen, der das zurückgelassen hat: die Statuten und die Mitgliedskarte des Hilchenbacher Vogelschutzvereins, die Leipziger Bienenzeitung in gleich mehreren Jahrgängen, ein Heft: „Gegenwärtige Wahrheit“, der Teil eines Buches: „Die übernatürlichen Geheimnisse des Christentums“, eine Apothekenschrift „Zur Behandlung der Erkältungssymptome und der Influenza.“ Und immer wieder mal ein „Zeugniß über Schutzpocken-Impfung“ für verschiedene Familienangehörige – denn die Pockenimpfung war in Deutschland bis 1976 Pflicht.
Der Mensch
Kaum zu übersehen sind die Gerichtsakten, Schreiben des Anwalts an den „Herrn Leimfabrikanten Hugo Holdinghausen“, ein Urteil des Oberlandesgerichts „im Namen des Königs“. „Es ging um Wasser“, berichtet Carina Vogel, „die haben sich nichts geschenkt.“ Was jetzt im Detail nachzulesen ist, hat Friedrich-Wilhelm Busch in einem Kapitel der „Hilchenbacher Geschichten“ zusammengefasst: Wilhelm Holdinghausen, Miteigentümer der Leimsiederei seines Schwagers Jakob Saßmannshausen, errichtete in Hadem direkt nebenan eine eigene Leimfabrik, die von seinem Sohn Hugo deutlich erweitert wurde. „Das Wasser aus dem Hademer Bach war sein Schicksal“, schreibt Busch. Es war nämlich zu knapp für beide Betriebe. Onkel und Neffe wurden Feinde, prozessierten gegeneinander bis zum Reichsgericht in Leipzig. Onkel Saßmannshausen gewann. Hugo Holdinghausen, der den Betrieb in Hadem längst verkauft hatte, ging in Konkurs.
46 Jahre alt ist Hugo Holdinghausen, als er Hilchenbach verlässt, um in Brachthausen – da hatte er Land geerbt – als Landwirt neu anzufangen. „Er muss sehr verbittert gewesen sein, denn er lebte einsam wie ein Eremit“, schreibt Friedrich Wilhelm Busch. 1923, mit 73 Jahren, macht Hugo Holdinghausen sein Testament. Alleinerbe wird der evangelische Männerverein Altenhundem-Meggen; er soll ein „Erholungsheim für bedürftige evangelische Kinder und Erwachsene“ errichten.
Aus dem Land in Altenhundem sollen Bauplätze werden., seinen beiden Neffen gesteht er den „unentgeltlichen Erwerb“ zu: „Hugo Lorsbach erhält den Platz nur dann, wenn er seine Kinder im evangelischen Glauben erziehen lässt.“ Der rheinisch-westfälische Verband evangelischer Arbeitervereine tritt mit Holdinghausen in Kontakt. Das Heim soll nun schon zu seinen Lebzeiten gebaut werden, im Gegenzug wird für Pflege, Bestattung und Grabpflege des Stifters gesorgt. Der Grundstein wird 1924 zwar gelegt, bei Nacht und Nebel aber der Rohbau des evangelischen Hauses von den katholischen Brachthausenern Stein für Stein wieder abgetragen. Hilchenbachs Bürgermeister Volkmann bietet ein Haubergsgrundstück an: „Die Erholungsbedürftigen werden sich bei uns wohler fühlen.“ Am 22. Mai 1927 wird das Richard-Martin-Heim eröffnet. Heute steht vor dem Haus der Grabstein seines Stifters Hugo Holdinghausen, der am 26. Mai 1925 in Hilchenbach gestorben ist.
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Und jetzt, fast 100 Jahre später, die Wiederentdeckung dessen, was von diesem Leben übrig geblieben ist. „Wir sind erst ganz am Anfang“, sagt Stadtarchivarin Verena Hof-Freudenberg. Die Schriftstücke müssten nun in eine Reihenfolge gebracht und dann vor allem gelesen werden. „Es würde sich lohnen“, glaubt auch Carina Vogel: Was hat den Leimfabrikanten, der Landwirt werden musste, umgetrieben? Wie hat er allein gelebt, was hat ihn beschäftigt? Seine Korrespondenz könnte Aufschluss geben: „Er hat viel nach Amerika geschrieben“, berichtet Carina Vogel. „Aus wirtschaftshistorischer Sicht ist das interessant“, sagt Verena Hof-Freudenberg. Aber nicht nur. Schließlich erfassen die geretteten Schriftstücke viele Lebensbereiche. „Ein echter Glücksfall.“ Damit der Nachlass von Hugo Holdinghausen, der sich für den Hilchenbacher Krieger-Unterstützungsverein ebenso interessierte wie für den Altenhundemer Rohstahl-Verein, für die „Trocknung des Leims auf künstlichem Wege“ ebenso wie für Lessings Leben, nicht neben vielen anderen Nachlässen bloß im Archiv schlummert, müsste sich jemand kümmern. „Vielleicht sogar für eine Dissertation.“
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