Siegen-Wittgenstein. Das Radverkehrsnetz im Siegen-Wittgenstein soll massiv ausgebaut werden. Die Kosten dafür werden auf 300 Millionen Euro geschätzt – mindestens

Mehr als 300 Millionen Euro – so viel wird ein schnelles, attraktives, sicheres Radverkehrsnetz im gesamten Kreisgebiet mindestens kosten. Grob geschätzt. Bis 2030 soll der Anteil des Fahrrads am Gesamtverkehr in Siegen-Wittgenstein auf 10 Prozent steigen – derzeit (vor Corona) liegt er bei 4. Das Land NRW strebt 25 Prozent an, dafür seien die Ausgangsbedingungen in Siegen-Wittgenstein aber eher schlecht, sagte im Kreisausschuss für Wirtschaft, Mobilität und Verkehrsinfrastruktur Johannes Pickert von der Planersocietät Dortmund, die für den Kreis das Radverkehrsnetzkonzept erstellt hat.

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Alltagsradverkehr soll in Siegen-Wittgenstein gut abgewickelt werden können, touristische Fahrten sind zunächst nachrangig. Dazu müssen die wichtigsten Punkte in den Kommunen identifiziert und miteinander verbunden werden, von der Luftlinie zur machbaren Route. Erstellt wurde eine Radwege-Hierarchie, ungefähr vergleichbar mit Bundes-, Landes- und untergeordneten Straßen, die sich auf insgesamt 850 Kilometer summieren. „Bisher wurde ein Radweg gebaut, wenn irgendwo noch eine Fläche frei war“, sagte Plickert – das soll vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Verkehrsplaner: Siegen-Wittgenstein ist „landschaftlich gesegnet“

Es geht um enorme Summen, enormen Aufwand und viel Zeit – das will gründlich vorbereitet sein. Die Planersocietät sattelte teils auf bereits recht weit fortgeschrittene Planungen in den Städten und Gemeinden auf, fuhr Trassen selbst mit dem Fahrrad ab, analysierte Straßen, Höhenmeter, Siedlungen und Verkehrsströme. Auch die zahlreichen Anmerkungen aus der Bevölkerung zur Mobilitätsbefragung flossen ins Konzept mit ein.

„Ohne Schiene kein Zug“ – das gelte analog nicht vollständig für das Fahrrad, aber grundsätzlich sei es natürlich so, dass die Leute nicht mit dem Fahrrad fahren, wenn es keine Radwege gibt, betonte Plickert. In Siegen-Wittgenstein gebe es große Netzlücken; inner- wie außerorts. Ortsdurchfahrten seien eng, am Fahrbahnrand oft zugeparkt, mit hohem Verkehrsaufkommen – vor allem hier sei einiges zu tun. „Landschaftlich sind sie hier gesegnet“, sagte der Verkehrsplaner, abseits der Abwicklung von Alltagsfahrten gebe es auch hier Potenzial.

Zugunsten des Fahrrads auf Parkplätze verzichten

An Asphaltdecken führt kein Weg vorbei, wenn es sicher, schnell und sauber zugehen soll – 350 Kilometer der Routen im Konzept müssten neu asphaltiert, 222 Kilometer erneuert werden. 50 Kilometer vorhandene Straßen könnten ausgebaut, 251 neu gebaut werden. Markierungen – Schutzstreifen – wären auf 88 Kilometern notwendig, vor allem innerorts, sowie 104 Kilometer auf Fahrradstraßen.

Querungen, Markierungen und Beleuchtung gilt es zu planen, zu bezahlen und umzusetzen, gerade auf Pendlerrouten, wo quasi Tag und Nacht Menschen mit dem Rad zur Arbeit fahren, sei eine Beleuchtung Pflicht. Das sei mit LED und Bewegungsmeldern auch klimafreundlich umsetzbar.

Auf dieser Datenbasis kann die Politik nun entscheiden, wie es weitergeht. Zuständig sind jeweils die Baulastträger – Kreis, Kommunen, Straßen NRW, denen die Straßen „gehören“. Vielerorts sind benötigte Grundstücke nicht verfügbar, Straßenquerschnitte viel zu eng für eine optimale Umsetzung, teure Ingenieurbauten wie Brücken oder Hangsicherung nötig. Die Straßenverkehrsbehörden und die Kommunalpolitik, sagt Plickert, müssen ran und entscheiden, wo auf Abbiegestreifen und Parkplätze zugunsten des Fahrrads verzichtet werden kann.

Mindestens 300 Millionen Euro fürs Fahrrad in Siegen-Wittgenstein

Die 300 Millionen Euro Kostenschätzung – eher 350 Millionen – enthalten zwar schon die Oberflächenerneuerung für Autostraßen, die bei einer Sanierung dann fürs Fahrrad „umsaniert“ werden – was sie nicht enthalten, ist aber einiges mehr: Grunderwerb, Ingenieurbauwerke, umweltschutzrechtliche Prüfungen. „Vieles dürfte über die allgemeinen Verkehrsbudgets machbar sein“, so Plickert, er erinnerte aber auch an die fast schon obligatorischen Kostensteigerungen bei Baumaßnahmen. Größter Kostenpunkt sei sicherlich der Neubau von Radwegen dort, wo bislang keine sind.

Andererseits werde derzeit viel und künftig vermutlich noch mehr Fördergeld für den Radverkehrsausbau bereitgestellt, sagte Plickert. Auf den Kreis, der gemäß Aufgabenverteilung zuständig für seine Kreisstraßen ist, entfallen rund 10 Prozent der Summe; 35 Millionen Euro. Bei einem Umsetzungshorizont von 10 Jahren und Fördersummen von bis zu 90 Prozent wohl nicht das entscheidende Problem, meinte Michael Haßler, Amtsleiter Immobilien – der Kreisstraßenetat betrage mehr als 10 Millionen Euro jährlich.

Neuer Radschnellweg

Wie berichtet hatte der Kreis Ende 2020 eine weitere Potenzialanalyse für den Radschnellweg Betzdorf-Siegen-Kreuztal in Auftrag gegeben, nachdem das Land zum Ergebnis gekommen war, dass dafür nicht genug Menschen auf dem Fahrrad auf dieser Trasse unterwegs seien. „Wir kommen auf über 2000 Fahrräder im zentralen Abschnitt in Siegen“, sagte Johannes Plickert.

Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie ab Juli soll die konkrete Trasse ausgearbeitet werden. Straßen NRW habe signalisiert, dass eine Bündelung entlang der HTS-Trasse vielversprechend sei – hier stelle sich auch nicht das Problem des Grunderwerbs.

In einem so großen Verkehrsnetz natürlich ohnehin nicht alles gleichzeitig angegangen werden könne – Priorisierung sei nun Sache der kommunalen Familie. „Am besten schnell da anfangen, wo es schon etwas gibt“, empfahl Plickert; wo ohnehin Deckenarbeiten anstehen beispielsweise.

Personelle Kapazitäten seien ein Engpass, warnte Plickert: Straßen NRW, Kreis und Kommunen könnten die Ausführungsplanung eines solchen Projekts nicht mal eben nebenher leisten. Ein neuer Mitarbeiter werde ab sofort sämtliche Einzelmaßnahmen sichten und sortieren, Abstimmungsgespräche mit allen Beteiligten führen, kündigte Michael Haßler an, ab Mitte 2022 könne mit einer Liste gerechnet werden, in welcher Reihenfolge zumindest die Maßnahmen an den Kreisstraßen am besten umgesetzt werden könnten. „Die Kreisverwaltung hat sich bisher nicht um Radverkehr kümmern müssen, es gibt kein Amt, keine Stellen“, sagte Landrat Andreas Müller. Dies werde man nun schaffen, sich um Planung und Koordination kümmern, „damit nicht überall aneinander vorbeigeplant wird“.

„Schablone Radverkehr“ für alle Straßenbaumaßnahmen in Siegen-Wittgenstein

Auch wenn ein solches Großprojekt natürlich riskant sei – „zur Bewältigung der Verkehrswende müssen wir diese Risiken eingehen“, sagte Thomas-Christian Börger (Grüne). „Es muss etwas geschehen und wir müssen es jetzt tun.“ Achim Loos ging für die CDU noch ein Stück weiter – er sehe da kein Risiko, in Siegen-Wittgenstein habe man die Verkehrswende bereits ein Stück weit „verpennt“, andere seien da schon weiter. „Es muss das Ziel sein, bei allen Straßenbaumaßnahmen die Schablone Radverkehr drunterzulegen.“ Es gebe zahlreiche Beispiele für Bauarbeiten überall im Kreisgebiet, bei denen sich nachher rausgestellt habe, dass man prima den Radverkehr hätte mit bedenken können.

Auch sein Fraktionskollege Martin Achatzi appellierte zu einer schnellstmöglichen Umsetzung: „Vor 50 Jahren hätten wir Sie rausgeschmissen“, sagte er zu Verkehrsplaner Johannes Plickert, „vor 30 Jahren wären wir in Gelächter ausgebrochen. Jetzt ist der Zeitpunkt da.“ Sonst werde man in 10 Jahren „über uns lachen“.

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Die Steigerungen der Fahrradfahrer, gerade beim E-Bike, seien keine Alltagsfahrer, sondern es handle sich dabei um touristische oder Freizeitfahrten, behauptete Roland Steffe (AfD). „Eine Sichtweise des letzten Jahrhunderts“, schnaubte Martin Achatzi, man stecke mitten in der Verkehrswende, auch in Siegen-Wittgenstein. Allein aus seiner Straße würden sich jeden Tag drei Pendler aufs Fahrrad schwingen und an der Hauptstraße verzweifeln. „Angebot schafft Nachfrage.“