Kreuztal. Leben in Angst, keine Krankenversicherung, prekäre Jobs: So leben viele EU-Bürger aus Südosteuropa in Kreuztal.

Die Stadt Kreuztal gehört zu den Städten in Nordrhein-Westfalen mit besonders hoher Zuwanderung aus Südosteuropa. Seit 1. September 2020 arbeiten daher bei der Stadt – auf anderthalb Stellen – zwei sozialpädagogische Fachkräfte als „Ankommenslotsinnen“. Stadträtin Edelgard Blümel erinnert sich daran, wie kurzfristig der Kreuztaler Einstieg in das Förderprogramm des Landes gelang: „Wir haben das als Chance gesehen, Menschen aus Südosteuropa ein Hilfsangebot zu machen. Hier sind multiple Problemlagen abzuarbeiten.“

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Wie kommt Kreuztal in den Kreis der 21 besonders geförderten Kommunen?

Durch einen Anteil von Zuwanderern aus den südosteuropäischen EU-Staaten, der um 50 Prozent über dem Landesdurchschnitt liegt. Das liegt daran, dass Kreuztal in der Erlersiedlung Wohnraum hatte, als 2014 die Freizügigkeit für Arbeitnehmer innerhalb der EU auch für Bürger von Rumänien und Bulgarien eingeführt wurde. „Diese große Siedlung macht Kreuztal attraktiv“, sagt Sozialdezernentin Edelgard Blümel. Der Wohnraum dort ist bezahlbar. 1280 Menschen aus der Zielgruppe des Programms leben inzwischen in Kreuztal – wer nachzieht, wählt zumindest als erste Anlaufstelle Orte, an denen Bekannte oder Familienangehörige schon angekommen sind. Im einzelnen: 983 Menschen aus Rumänien, 157 aus Kroatien, 103 aus Bulgarien, 31 aus Ungarn, sechs aus Slowenien. „Die Dunkelziffer ist uns nicht bekannt“, sagt Edelgard Blümel. Nicht alle Neuankömmlinge melden sich im Rathaus an – schließlich haben sie von dort auch nichts zu erwarten, zumindest keine Geldleistungen. „Der Zugang zu Asylsuchenden ist einfacher.“

Wodurch wird dieser Zuzug zum Problem?

Das liegt am rechtlichen Status dieser Einwohnergruppe: Sie sind EU-Ausländer und können innerhalb der EU leben, wo sie wollen – wenn sie denn selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen und eine Krankenversicherung haben. Im Umkehrschluss heißt das: Wer keine Krankenversicherung hat, bekommt auch keine, wenn er nicht zumindest einen Minijob hat. Und wer nicht arbeitet, bekommt kein Geld vom Jobcenter.

Was können die Sozialarbeiterinnen tun?

„In Deutschland ist es ziemlich schwer, ohne Arbeit in die Krankenversicherung zu kommen“, sagt Sozialpädagogin Jennifer Jansen. In Kreuztal sind die Hälfte aller Personen, die die Beratung aufsuchen, betroffen, darunter auch jedes vierte Kind. Erster Schritt ist also die Vermittlung zumindest in einen Minijob, durch den die Arbeitssuchenden Anspruch auf Aufstockungszahlungen („Hartz IV“) bekommen – und eben auch den Zugang zur Krankenkasse. Solange das nicht klappt, bleibt der Verweis auf die kostenlose, durch Spenden finanzierte Sprechstunde der Malteser für nicht Versicherte. „Da schicke ich die Leute im Notfall hin.“ Alle Leistungen gelten nur für Ehepartner oder -partnerin und Kinder mit, nicht für die erweiterte Familie. In neun Prozent der Fälle gelang den Sozialarbeiterinnen die Vermittlung in eine Krankenversicherung.

Es trifft Alleinerziehende

68 Personen haben die Beratung bisher aufgesucht: 28 Erwachse mit insgesamt 40 Kindern. Von ihnen hatten zehn Erwachsene und 18 Kinder beim ersten Kontakt mit den Sozialarbeiterinnen noch keine Krankenversicherung. In sieben der acht Familien waren Elternteile alleinerziehend – wenn sie nicht genügend bezahlte Arbeitsstunden nachweisen, haben sie keinen Anspruch auf Leistungen des Jobcenters. Für neun Prozent der Betroffenen konnte die Stadt bisher eine Krankenversicherung ermöglichen.

Wo finden die Zuwanderer Arbeit?

Da, wo Deutsche nicht arbeiten wollen. In der Reinigung von Betrieben, in der Lebensmittel-, vor allem der Fleischindustrie, und da jeweils bei Subunternehmen. Jennifer Jansen umschreibt die Umstände als „sehr prekär“: Es gibt keine Arbeitsverträge, keine Lohnabrechnungen, natürlich auch keine Betriebsräte als unterstützende Ansprechpartner. „Oftmals reicht es, wenn ich anrufe und nachfrage“, berichtet die Sozialarbeiterin. „Das sind Verstöße, die bewusst in Kauf genommen werden“, glaubt Edelgard Blümel, „da muss man sich schon fremdschämen.“ Es sei „mehr als bedauerlich“, sagt die Stadträtin, „dass es in Deutschland immer noch möglich ist, dass Menschen unter diesen Bedingungen beschäftigt werden.“

Wie leben die Betroffenen in Kreuztal?

Es geht um 928 erwerbsfähige, überwiegend jüngere Erwachsene, 370 Kinder und Jugendliche und 16 Senioren. „Sie sind hierhergekommen mit der Hoffnung, dass es klappt“, weiß Edelgard Blümel. Aber sie wissen auch, wie sie scheitern können und wie viel an dem noch so elenden Arbeitsplatz hängt, fügt Jennifer Jansen hinzu: „Sie haben Angst.“ Ist das Einkommen weg, kann die Miete nicht mehr bezahlt werden. Aufgabe der Sozialarbeiterinnen ist es dann, Wohnungslosigkeit abzuwenden. Einmal ist es gelungen, ein Darlehen des Jobcenters zu vermitteln. Sonst bleiben die Wiedereinweisung in die Wohnung durch das Ordnungsamt oder der Umzug in eine Notunterkunft. Im schlimmsten Fall bleibt nur, den Familien und vor allem Kindern bei den Räumungsterminen beizustehen.

Was kann das Südosteuropaprogramm bewirken?

Erster Schritt ist die Kontaktaufnahme. „Wir wünschen uns, dass viele unser Hilfsangebot annehmen“, sagt Stadträtin Blümel. Die Stadt legt Wert darauf, dass die Kinder in einer Kita angemeldet werden. Und wenn die Einschulung in die Grundschule ansteht, hat die Stadt im Blick, dass alle Schulpflichtigen erfasst werden. „Viele Eltern wissen nicht, dass sie Kinder an der Schule anmelden müssen.“ Für die Sozialarbeiterinnen ist das eine Gelegenheit, die Familien direkt aufzusuchen. „Da schreiben wir keine Briefe“, sagt Edelgard Blümel. Die Familien sind meist froh über den Austausch – und nehmen die Gelegenheit wahr, Sorgen und Nöte zu äußern. Natürlich ist die Sprache ein Hemmnis. Jennifer Jansen und ihre Kollegin Ina Pfeifer können auf den Dolmetscherpool zurückgreifen, den das Kommunale Integrationszentrum beim Kreis Siegen-Wittgenstein aufgebaut hat. Im Alltag muss aber meistens der Dienst von Google Translate reichen. Und das, was Jennifer Jansen sich selbst aneignet. Sie lernt gerade online Rumänisch: „Ein paar Stunden Crashkurs.“

Was ist die Perspektive?

Über allem der Wunsch nach Integration, in Kreuztal oder sonstwo in Deutschland. „Dass sie nicht nur ankommen und hier sind, sondern sich wirklich etablieren“, sagt Edelgard Blümel. „Wir hoffen, dass ihre Lebensbedingungen besser werden.“ Die Beratungsstelle trägt dazu bei, indem sie mit Schulen und Kitas zusammenarbeitet, Spielangebote für die Kinder organisiert und Bewerbungstrainings für die Größeren. Verstärkt eingebunden und erweitert wird, sobald die Pandemie das wieder erlaubt, der Kreis der Ehrenamtlichen. „Das Projekt soll sich verstetigen“, wünscht Edelgard Blümel, auch über den derzeitigen Projektzeitraum bis Ende 2022 hinaus. „Auch in anderthalb Jahren wird es noch genug zu tun geben.“

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