Siegen. Frust trotz Freude: In Siegen haben Abiturienten die schriftlichen Prüfungen hinter sich gebracht. Ein Fach bereitete besonders Kopfschmerzen.

Das Gefühl ist bittersüß. Adrian Serban und Maria Luisa Biscotti haben es geschafft. Nach einem Schuljahr im Ausnahmezustand haben sie am Dienstag ihre schriftlichen Zentralabitur-Prüfungen an der Bertha-von-Suttner-Gesamtschule hinter sich gebracht – nur ihre mündlichen stehen noch an. Nie zuvor hatte sich ein Abi-Jahrgang so sehr in Eigenregie vorbereiten müssen: Wochenlanges Lernen alleine zuhause – keine Freundinnen und Freunde um sich herum. Eigentlich könnten sie stolz sein. Doch in die Erleichterung mischt sich Frust.

Viele hätten nach der Klausur geweint

Völlig verzweifelt habe Adrian Serban in der Matheklausur auf die Uhr geschaut: Nur noch anderthalb Stunden und erst eine Aufgabe bearbeitet. „Nicht wenige haben nach der Klausur geweint“, erzählt der Abiturient – normalerweise ein sehr guter Schüler. „Diese Klausur war die absolute Frechheit.“ Die Aufgabenauswahl, die vom Ministerium „aus dem Themenpool gefischt“ worden sei, sei ihm auch in seiner Englisch LK-Klausur unpassend zu dem Umfang erschienen, in dem die Themen vorher behandelt worden waren.

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Doch in keinem der anderen Fächer sei man so unter Druck geraten wie in Mathe. Maria Luisa Biscotti sei nach der Abgabe ihrer Mathe-Klausur geschockt und aufgewühlt zugleich gewesen: „Ich hatte richtig Migräne – der komplette Druck ist auf einmal abgefallen. Gleichzeitig war da aber die Sorge: Reicht mein Abi-Schnitt für das, was ich studieren will?“

Siegener Lehrer der Meinung: Mathe-Aufgaben waren zu schwer

Fassungslos hätten sich eine Stunde nach der Klausur noch Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte über die Mathe-Klausur unterhalten. „Die Lehrer waren auch alle einstimmig der Meinung: Die Aufgaben waren viel zu schwer, die Zeit viel zu kurz.“ Wie viele andere Schülerinnen und Schüler in NRW wollen Adrian Serban und Maria Luisa Biscotti die empfundene Ungerechtigkeit nicht einfach hinnehmen: Die beiden unterzeichneten Internet-Petitionen, die eine bessere Bewertung der Mathe-Klausur fordern. Die hohen Anforderungen seien vor dem Hintergrund der Pandemie-Bedingungen nicht gerecht gewesen.

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Die aktuelle Situation verlangte den Abiturienten in ihren Vorbereitungen viel ab. „Es hat sich angefühlt wie Bulimie-Lernen“ – den Stoff in in sich reinfressen, ohne, dass nachhaltig viel hängen bleibe. „Der Zeitdruck war enorm“, sagt Adrian Serban. Maria Luisa Biscotti pflichtet bei: „Ich kenne niemanden, für den die Zeit nicht super belastend war. Selbst die besten im Jahrgang hatten psychische Probleme.“

Selbstdisziplin beim Lernen fällt Siegener Abiturienten zuhause schwer

Zweieinhalb Monate waren sie komplett zuhause. Tagelang bearbeiteten sie Aufgaben und luden diese anschließend in eine Cloud hoch – oft mit sperrlicher Resonanz der Lehrkräfte, „die ja auch manchmal kurz vorm Kollaps“ gestanden hätten. Stundenlang im Zimmer sitzend fiel die Selbstdisziplin schwer. Ablenkende Faktoren: „Meine Familie – und direkt vor meinem Fenster eine Baustelle“, erzählt Maria Luisa Biscotti. Adrian Serban wiederum habe sich öfter dabei erwischt, wie er stundenlang Gitarre spielte, anstatt zu büffeln.

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Durch die Umstände seien große Lücken und Verzögerungen im Lehrplan entstanden. „Erst in den Osterferien haben wir so richtig angefangen, fürs Abi zu lernen, weil davor so viel aufgeholt werden musste“, so Maria Luisa Biscotti. Der Beginn der Abiturprüfungen wurde vom Land deshalb nach den Ferien um neun Tage verschoben – um den Abiturientinnen und Abiturienten mehr Vorbereitungszeit einzuräumen. „Das hat mir schon noch wenigstens ein bisschen geholfen – vor allem in Mathe“, findet Adrian Serban.

Siegener Abiturjahrgang muss auf vieles verzichten

Doch zum Abitur-Gefühl gehört bekanntermaßen mehr, als nur die Leistungserbringung. Das Ganze drum herum ist es, woran man sich ein Leben lang erinnert. „Und das wurde uns alles genommen“, sagt Adrian Serban. „Unsere Abifahrt nach Holland, der Abischerz – sogar das Waffeln verkaufen.“

Mit Ghettoblaster auf den Schultern seien die Abitur-Jahrgänge vor ihnen im Rahmen der sogenannten Mottowoche durch die Klassenräume gezogen. „Uns wurde die Mottowoche verwehrt aus Sorge vor Ansteckungen – was ich natürlich auch komplett verstehen kann.“ Schade sei es trotzdem gewesen. Das obligatorische verkleidet in den Unterricht gehen habe man sich aber nicht nehmen lassen – „nur alles halt etwas gemäßigter“, sagt Maria Luisa Biscotti. Sie zählt die Mottos auf: „Verschlafen, Assi, Berufe und Dressed-Up.“

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Anstatt des geplanten Abi-Balls am 25. Juni in der Siegerlandhalle würde man alternativ nun die Zeugnisvergabe in der Turnhalle etwas feierlicher gestalten, berichtet Adrian Serban, der Vorsitzender des Abi-Planungskomitees ist. „Unser Jahrgang ist klein, nur 65 Leute, vielleicht bekommen wir ausgehandelt, dass sogar unsere Eltern dabei sein können.“

Nach dem Abitur Studium an der Uni Siegen geplant

An der Uni gehe es in diesem Modus weiter, befürchten die beiden: Die Kennenlernwoche für Erstsemester fällt aus oder findet online statt – genau wie die Vorlesungen. Trotzdem sind sich beide sicher, dass sie in Siegen studieren wollen: Adrian Serban Psychologie und Luisa Biscotti Soziale Arbeit. „Ich glaube schon, dass genauso viele studieren wollen wie in den letzten Jahren“, meint Adrian Serban – obwohl sich viele Sorgen machten, ob es mit ihrem NC reiche.

Er selbst wolle aber erstmal noch raus aus seinen vier Wänden und eine größere Fahrradtour unternehmen: „Das ist so ein Traum von mir, der sich während der Pandemie entwickelt hat.“ Ein Auslandsjahr hätten die beiden sowieso nicht in Betracht gezogen. „Eine aus unserer Stufe wollte aber eigentlich ‘Work and Travel’ machen, die macht jetzt stattdessen ein FSJ in einem Jugendtreff hier in der Nähe.“

Sorgen über das Stigma des „Corona-Abitur-Jahrgangs“ bei Bewerbungen machten sie sich ebenfalls keine. „Im Gegenteil“, sagt Maria Luisa Biscotti, „wir haben ja gezeigt, wie sehr jeder einzelne von uns in dieser harten Zeit über die eigenen Grenzen hinaus gewachsen ist.“

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