Siegen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) lädt trotz Corona zu einer Kundgebung am 1. Mai. Die Redner geben einen Einblick in die Ängste in der Krise

Zum zweiten Mal in der Corona-Zeit zeigte der Kalender den 1. Mai. Im Gegensatz zu 2020 gibt es in Siegen trotzdem eine Kundgebung des DGB auf der Siegbrücke. Straff organisiert, mit einem abgesperrten Areal, in das genau 100 Personen gelassen werden sollen, für die Kreuze auf den Boden geklebt sind. Die Teilnehmer mussten sich bis zum 29. April anmelden, am Eingang wird nach Listen kontrolliert. Und zumindest in der ersten Hälfte ist es auch ziemlich voll. Nach einer knappen Stunde lichten sich die Reihen.

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“Roter 1. Mai“ demonstriert in Siegen

Vor einem Jahr hatten die Gewerkschaften ihre traditionelle Demo abgesagt. Die Veranstalter des „Roten 1. Mai“ wollten allerdings nicht verzichten und erstritten sich gerichtlich einen Auftritt am Kornmarkt. Dort starten sie ziemlich kurzfristig noch einen Protestzug Richtung Innenstadt, der gut zehn Minuten vor zehn Uhr am Scheinerplatz eintrifft. Auf den Transparenten geht es gegen die „Bonzen“, wird Solidarität mit allen Unterdrückten gefordert, die „Antifa“ brüllt bekannte Parolen. Ein Iraner darf sprechen, sei aber von den meisten wohl nicht verstanden worden, findet später ein Beobachter. Im Vorfeld sei „nichts von denen zu hören gewesen“, ist auf der Siegbrücke von Jürgen Weiskirch (ver.di) zu erfahren. Nur eine Handvoll Vertreter hätten sich offiziell angemeldet.

Auf der Siegbrücke bleibt es jedenfalls geordnet, wo Karl Parchow und seine Trommler für die einzige Unterhaltung sorgen. Eine „ausschließlich politische Kundgebung“ müsse es unter den gegebenen Umständen werden, bedauert Ingo Degenhardt, der Geschäftsführer des DGB in Südwestfalen, ohne Demonstrationszug, ohne Verpflegungsstände „und ohne Familienfest“. Es sei aber wichtig, ein öffentliches Zeichen zu setzen, „mit Abstand und Verantwortung“ die Demokratie zu stärken, um den Menschen zu zeigen, dass die Gewerkschaften deren Interessen verträten.

Gewerkschaften wollen sich in Wahlkampf einmischen

Degenhardt begrüßt „meinen Vorvorgänger Willi Brase“ und bittet um ein kurzes Gedenken für dessen Nachfolger Werner Leis, der Anfang März gestorben ist. Er habe hohen Respekt vor allen, die sich gegen eine Teilnahme entschieden hätten, betont Ingo Degenhardt, dankt aber umso mehr den Kollegen aus den Teilgewerkschaften, die sich am Samstag für den Weg auf die Siegbrücke entschieden haben. Er lobt die Flexibilität der Betriebsräte, die in der Krise kurzfristig wichtige Entscheidungen mitgetragen hätten: „Weltweit wird unser Modell der Kurzarbeit kopiert. Es ist der Impfstoff gegen Massenarbeitslosigkeit.“

Es gehe um die Sicherung von Beschäftigung, die Verhinderung von Insolvenzen. In den vergangenen Monaten habe sich die Bedeutung eines starken Sozialstaats gezeigt, wehrt Ingo Degenhardt alle Forderungen nach dessen Verschlankung ab, kritisiert jene Unternehmen, die sich unsolidarisch verhielten und jetzt Menschen entließen, auch solche, die an der Krise verdienten, wie manche Abgeordnete. Es gibt keinerlei Kritik an bestimmten Parteien, aber eine klare Position gegen rechte Kräfte, die in Siegen unerwünscht seien. Degenhardt kündigt eine Einmischung der Gewerkschaften in den Wahlkampf an. Alle Aussagen würden genau in den Blick genommen. „Solidarität ist Zukunft“ ist das Motto in diesem Jahr.

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Siegener geben Einblicke in Ängste in der Coronakrise

Ingo Degenhardts Kollegen aus den Einzelgewerkschaften sprechen im Anschluss über Einzelheiten ihres Alltags und das, was sie für die Zukunft fordern und auch fürchten. Da ist der Student Karl Haupt, der die schwierige Lage von jungen Studierenden beschreibt, die keinen Kontakt zu Kommilitonen hätten, denen die Einnahmequellen für Nebenjobs weggebrochen seien. Er beklagt im Namen der Gewerkschaftsjugend die ebenso unerträgliche Situation für viele Auszubildende, deren Unterricht nur unzureichend organisiert sei, die entweder gar nicht übernommen oder gleich in 100-prozentige Kurzarbeit geschickt würden. Ohnehin sei die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe spürbar rückläufig. Setze sich dies fort, „droht nach der Corona- gleich die Facharbeiterkrise“.

DGB gegen Rechts

Die rechtsextreme Kleinstpartei der „III. Weg“ hatte kurzfristig ebenfalls eine Aktion angemeldet. „Wir wollen euch hier nicht“, ruft Degenhardt unter Applaus. Kritik an staatlichen Maßnahmen müsse möglich sein, aber nur in einem bestimmten Rahmen.

Sonja Lorenz-Görg gibt einen Einblick in ihre Pflege-Arbeit im Kreisklinikum unter Corona-Bedingungen, ein Ausnahmezustand mit vielen Belastungen für sich und ihre Kollegen. Sie selbst arbeite seit einem Jahr nicht mehr auf ihrer eigenen Station, erlebe die großen Probleme durch das Virus, dass etwa „nicht mal eben“ auf den Notruf eines Patienten reagiert werden könne, weil es immer um das An- und Ablegen von Schutzkleidung gehe. Sonja Lorenz-Görg bedankt sich für das gute Arbeitsklima im Kreisklinikum, das allerdings ausschließlich auf die handelnden Personen zurückgehe, weniger auf die tatsächlichen Umstände oder öffentliche Hilfen und auch nicht allgemeingültig sei. Sie spricht mit gewisser Häme über einen steuerfreien Zuschuss, der nun mit einem weiteren verrechnet und am Ende doch noch wieder versteuert werden müsse. So hole sich der Staat das „ach so großzügige Almosen“ dann doch wieder zurück. „Ich finde das beschämend“, sagt Lorenz-Görg.

Bahnmitarbeiter werden Opfer aggressiver Kunden

Um ähnliche Themen geht es in einem kleinen Zwiegespräch zwischen Andree Jorgella (IG Metall) und Sascha Klein (IG Bau), die mit ironischer Zuspitzung über ihre Branchen sprechen, die tatsächlichen Probleme in scheinbaren Boom-Zeiten, in denen die Arbeitgeber Kosten auf dem Rücken der Beschäftigten sparten, die Corona-Maßnahmen in den Betrieben oft völlig unzureichend seien und immer öfter versucht werde, Entlassungen durchzusetzen.

David Reinhold spricht für die EVG über die Probleme im ÖPNV, wo Bahnmitarbeiter immer wieder Opfer von aggressiven Kunden würden. Was auch Uli Kring moniert und alle Anwesenden gebeten hat, bei solchen Vorfällen einzuschreiten. Nach gut 90 Minuten ist der 1. Mai 2021 auf dieser Ebene beendet.

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