Siegen. Was bedeuten die neuen Corona-Beschlüsse für den Kreis Siegen-Wittgenstein und wie werden sie aufgenommen? Die Wirtschaft ist enttäuscht

Lockdown verlängert, zunächst dürfen ab der kommenden Woche nur Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte öffnen, weitere Öffnungen im Einzelhandel hängen vom Inzidenzwert ab und sind mit Auflagen verbunden. Daneben setzt die Politik auf Impfen und Tests. Was bedeuten die neuen Beschlüsse für den Kreis Siegen-Wittgenstein und wie werden sie aufgenommen? Im Gesundheitsausschuss geben Dr. Christoph Grabe und Thiemo Rosenthal einen Überblick über die Lage im Kreis. Die Stimmen aus Gastgewerbe und Handel sind eher kritisch.

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Alle Tests in Siegen-Wittgenstein auf Mutationen untersucht

Das Gesundheitsamt des Kreises arbeitet an sieben Tagen in der Woche von 7 bis 21 Uhr. Die Arbeitskräfte arbeiten dabei in zwei Schichten, von 7 bis 14.15 Uhr und von 13.45 bis 21 Uhr. Insgesamt sind mehr als 120 Personen nur im Bereich Corona tätig. Dafür wurden laut Dr. Grabe 40 zusätzliche Kräfte eingestellt, 30 beim Kreis angestellte Personen wurden abgeordnet sowie 20 Soldaten. Mit diesen habe man ausschließlich positive Erfahrungen gemacht, betont Grabe.

Auch bei dem Personal des Gesundheitsamtes gab es Coronafälle, wodurch teilweise bis zu zehn Personen ausfielen. Die Fälle wurden jedoch jeweils durch private Kontakte ausgelöst, in keinem Fall durch das Testen.

Grabe erinnert daran, dass die erste Welle im Kreis Siegen-Wittgenstein verhältnismäßig glimpflich verlief. Die 7-Tage-Inzidenz lag maximal bei 25 und 13 neue Fälle an einem Tag waren der Höchstwert. Die zweite Welle hingegen traf den Kreis deutlich härter. 125 Fälle am Tag waren hier der Höchstwert, die Inzidenz lag zwischenzeitlich bei 190. Der starke Anstieg geschah im November. Nach dem harten Lockdown habe es „bemerkenswert lange gedauert“, bis die Zahlen wieder abnahmen.

Zwei Labore sind größtenteils für die Tests im Kreis Siegen-Wittgenstein zuständig. Das Kreisgesundheitsamt habe verfügt, sämtliche Proben aus dem Kreisgebiet, egal wer sie genommen hat, auch auf die Virusvarianten untersucht werden. Bisher sei nur die britische Mutante nachgewiesen worden und diese auch nur in geringer Fallzahl.

Es sei eindeutig, dass das Coronavirus besonders für ältere Menschen gefährlich ist, unterstreicht Grabe, weshalb die Infektionen in Alten- und Pflegeheimen besonders dramatisch seien. Seit Februar habe es jedoch keine Toten mehr in solchen Einrichtungen gegeben, das sei „nur auf die Impfungen zurückzuführen“, so Grabe.

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Impfstelle und Kooperation mit Hausärzten in Siegen-Wittgenstein geplant

„Der Hoffnungsträger ist die Impfung“, bestätigt Thiemo Rosenthal, Leiter des Corona-Krisenstabs des Kreises. Am 27. Dezember hatte der Kreis mit den Impfungen in Einrichtungen begonnen. Erst am 8. Februar allerdings konnte im Impfzentrum die erste Gruppe der über 80-Jährigen versorgt werden, obwohl die Einrichtung bereits am 15. Dezember bereit gewesen wäre – ein Umstand, der Rosenthal ärgert.

Nun aber läuft das Impfzentrum auf Hochtouren, auch dieses ist an sieben Tagen in der Woche in Betrieb, von 8 bis 20 Uhr. Auch hier wird in zwei Schichten gearbeitet, 18 Mitarbeiter des Kreises, 21 medizinische Arbeitskräfte der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL), darunter sechs Impfärzte, und vier Personen, die von der Apothekerkammer gestellt werden, sind hier pro Schicht durchschnittlich im Einsatz.

Seit dem 11. Februar wird das priorisierte Personal geimpft: Pflegepersonal, Ärzte, Heilmittelerbringer wie Physiotherapeuten, Prüf- und Begutachtungskräfte, Betreuer und Seelsorger. Voraussetzung ist bisher, dass die Personen regelmäßig in vollstationären Pflegeeinrichtungen tätig sind. Seit dem 1. März werden auch Zweitimpfungen vorgenommen. Notärzte und Rettungsdienste sind als erste Gruppe bereits vollständig geimpft, so Rosenthal, beim Klinikpersonal ist die Impfung bereits stark fortgeschritten. 21.500 Impfungen wurden vom Kreis bereits vorgenommen, 13.900 im Impfzentrum, 7600 durch mobile Teams.

Als nächste Berufsgruppen sollen nun die Kinderbetreuung, die Grund- und Förderschulen, die Jugendhilfe, die Eingliederungshilfe, Werkstätten für Menschen mit Behinderung und die Polizei geimpft werden.

Ab Ende März möchte der Kreis dann Impfangebote für Personen mit besonderem gesundheitlichen Risiko machen. Darunter fallen zum Beispiel Tumorerkrankungen, psychiatrische Erkrankungen, Diabetes oder Fettleibigkeit. Auch wenn die Krankheit nicht explizit im entsprechenden Erlass genannt wird, können sich Kranke ihr Leiden von ihrem Arzt gleichstellen lassen. Für ein Impfangebot ist ein begründetes fachärztliches Zeugnis nötig, dass nach dem 8. Februar erstellt wurde. Bereits jetzt gehen beim Kreis täglich hunderte Anträge ein, die erstens noch nicht vorgesehen sind und zweitens zu 90 Prozent die Voraussetzungen nicht erfüllten, so Rosenthal, wodurch viel zusätzliche Arbeit entstehe. An die Impfberechtigten appelliert Rosenthal, nicht die Erwartung zu haben, sofort dran zu kommen.

Aktuell kann der Kreis 42.000 Impfungen pro Monat durchführen, nach aktuellem Erlass müsste die Kapazität aufgrund der Einwohnerzahl nur bei 32.000 liegen. Um weitere Impfkapazitäten aufzubauen, plant der Kreis die Kooperation mit bis zu fünf Schwerpunktpraxen und der Impfstelle Wittgenstein. Diese würde mit Impfstoff und Personal aus dem Impfzentrum täglich angesteuert, dort würde aber kein Impfstoff gelagert. Die Suche nach einem Standort sowie die Gespräche mit Arztpraxen laufen bereits, es stünden aber noch Abstimmungen mit der KVWL aus, so Rosenthal.

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Gastronomie sieht „Feigenblattlösung“

Hotels, Restaurants, Bars – viele von ihnen hatten sich von dem Corona-Gipfel mehr erhofft: „Unsere Branche ist maximal enttäuscht. Wir laufen sehenden Auges in den tausendfachen Ruin“, so Lars Martin, stellvertretender Geschäftsführer des deutschen Hotel und Gaststättenverbands (Dehoga) Siegen.

Als „Feigenblattlösung“ bezeichnet er die Möglichkeit, lediglich die Außengastronomie unter Einhaltung von Schutzmaßnahmen öffnen zu dürfen. „Wer macht denn da seinen Biergarten auf?“, fragt sich Martin. Der Kostenapparat sei der gleiche, „egal ob ich zwei oder zwanzig Schnitzel anbrate“. Viele in seiner Branche würden langsam die Hoffnung aufgeben.

„Man hätte das Thema Testungen und digitale Nachverfolgung viel früher angehen müssen“. Dass jetzt eine dritte Welle bevorstehe, dafür sei seine Branche nicht verantwortlich: „Seit fast vier Monaten gilt für uns die Schließung – und auch davor hat das Gastgewerbe gezeigt, dass es in der Lage ist, gute Hygienekonzepte zu entwickeln“. Tatsächlich hatte das RKI der Branche lediglich ein „niedrig bis moderates“ Risiko attestiert.

„Bei dem schönen Wetter werden die Leute sich treffen, an den Wiesen oder im Park – nur eben nicht im kontrollierten Bereich in der Gastronomie“. Martin hofft deshalb auf einen „belastbaren Fahrplan für weitere Öffnungen“ ohne weitere Vertröstungen

IHK Siegen: Zu wenig Tempo

„Das geht zunächst mal in die richtige Richtung“, sagt Klaus Gräbener, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Siegen. Das Tempo sei allerdings viel zu gering, außerdem seien die Beschlüsse „nicht transparent, nicht nachvollziehbar und nicht leicht verständlich“ – weder für Gewerbetreibende noch für Kunden. Nach dem „Förderdschungel“ drohe nun der „Bedingungs- oder Öffnungsdschungel“, befürchtet Gräbener.

Außerdem kritisiert er eine Ungleichbehandlung der Wirtschaft, die es zwischen den Branchen und teils sogar innerhalb einzelner Branchen gebe. Von 5000 Betrieben im Bezirk der IHK Siegen mussten bisher 4000 im Lockdown geschlossen bleiben. Nun dürfen lediglich 270 belastbar öffnen. Von der Terminshopping-Lösung, bei der pro 40 m² ein Kunde einen begrenzten Zeitraum im Laden buchen kann, hält er wenig. Da sei für viele Betriebe „zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig“. Profitieren würden hingegen Online-Riesen wie Amazon.

Auch die Abhängigkeit vom Inzidenzwert bemängelt Gräbener. Tagesaktuell entscheiden zu müssen, ob ein Laden geöffnet werden dürfe, gehe an der Wirklichkeit vorbei. „Wirtschaft braucht berechenbare und planbare Perspektiven“, so Gräbener, diese seien durch die neuerlichen Beschlüsse nicht gegeben. Trotz aller Kritik, die er aus Sicht der Wirtschaft hat, betonte Gräbener, dass er auch Verständnis für die schwierige Situation der Politiker empfinde.

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