Siegerland. Quellenstudie „Der Evangelist“: Siegener Theologe Dr. Matthias Plaga-Verse forscht zu Siegerländer Evangelikalen während des Nationalsozialismus.

Christen haben eine Verantwortung, mit ihren Verfehlungen ehrlich umzugehen, sich der Vergangenheit und „dem, was sie im Namen des Glaubens falsch gemacht haben, wo sie gescheitert sind, zu stellen“: Der Lehrer und Theologe Dr. Matthias Plaga-Verse hat zur Rolle des „Neupietismus im Nationalsozialismus“ im Siegerland promoviert, seine Doktorarbeit ist jetzt als Buch erschienen.

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Für seine Quellenstudie zu neupietistischen Printmedien hat er das Beispiel der evangelikalen Wochenzeitschrift „Der Evangelist aus dem Siegerland“ analysiert, eine Publikation mit seinerzeit zehntausenden Lesern.

Siegerländer Gemeinschaftsbewegung NS-kritisch? – „Eine Legende“

Evangelikale Glaubensströmungen und Neupietismus haben im Siegerland Tradition und prägen die Region auch heute noch. „Es geht mir nicht um Frommenschelte“, betont Verse-Plaga, „sondern um eine ehrliche Auseinandersetzung mit Christen in der Diktatur.“ Denn dass die evangelikale Siegerländer Gemeinschaftsbewegung das Nazi-Regime ablehnte oder ihm gegenüber zumindest misstrauisch gewesen sei: Eine Legende, stellt Plaga-Verse auf Grundlage der Veröffentlichungen heraus. Die Bedeutung der Gemeinschaftsbewegung finde in historischen Arbeiten zum Siegerland in der NS-Zeit kaum Erwähnung. Das Buch soll hier einen Beitrag leisten.

„Neupietismus im Nationalsozialismus“ ist im Luther Verlag erschienen.
„Neupietismus im Nationalsozialismus“ ist im Luther Verlag erschienen. © Repro Hendrik Schulz

Der Pietismus: In dieser reformierten christlichen Konfession steht die Gemeinde im Fokus, weniger der Pastor als maßgebliche Instanz wie vor allem im Katholizismus, erläutert Plaga-Verse. Geprägt ist der Neupietismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts zudem vor allem durch Laienprediger und weniger durch ausgebildete Theologen. Die Prediger, erläutert Plaga-Verse, erlebten eine Art Erweckung und berichteten anderen davon – daher rühre auch das sehr schriftgetreue Bibelverständnis und die Ablehnung historisch-kritischer Bibelauslegung als wichtiges Wesenselement.

Erfolg des Neupietismus im Siegerland nicht hinreichend erforscht

Warum der Neupietismus gerade im Siegerland so erfolgreich war, ist noch nicht hinreichend erforscht, sagt Plaga-Verse. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass das Siegerland Montanindustrie war – und damit Alkoholismus angesichts der Lebens- und Arbeitsumstände grassierte. Das war in vielen solchen Arbeiterregionen der Fall. Im Kontrast dazu sei das Fernhalten von Versuchung und Laster ein starker Katalysator für die Hinwendung zu einem gottgefälligen Leben. Aber: Nur eine Theorie.

Autor und Buch

Dr. Matthias Plaga-Verse, geboren 1980, studierte an der Georg-August-Universität Göttingen Ethnologie, Religionswissenschaften und Volkskunde, nach dem Magister Lehramt an der Uni Siegen. Dem Ersten Staatsexamen folgte die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Veronika Albrecht-Birkner in der Forschungsstelle reformierte Theologie und Pietismusforschung an der Uni Siegen. Nach Promotion, Referendariat und Zweitem Staatsexamen unterrichtet Plaga-Verse, der mit Frau und Kindern in Wilnsdorf lebt, Ev. Religion, Sozialwissenschaften und Deutsch.

Das Buch „Neupietismus im Nationalsozialismus“ ist im Luther Verlag erschienen.

Die Zeitschrift: „Der Evangelist“ konstruierte die Identität der Siegerländer Neupietisten als Massenbewegung mit tausenden Mitgliedern jede Woche neu, so Plaga-Verses Analyse. Über die Zeitschrift konnte sich die Siegerländer Leserschaft immer wieder neu ihrer Frömmigkeit versichern. Vor und während der Nazizeit hatte „Der Evangelist“ bis zu 8000 Abonnenten wöchentlich, „und das haben nicht nur Einzelne gelesen“, verweist Plaga-Verse auf die meist sehr kinderreichen Familien in neupietistischen Gemeinden.

Nach dem Zweilten Weltkrieg beginnt die Legendenbildung: „Hitler hoch gelobt“

Die Zeitschrift mit bis zu 30.000 Lesern wöchentlich sei ein „massives Medium der spirituellen und politischen Meinungsbildung“ jener Zeit im Siegerland gewesen. Jedes Vereinsfest kam vor, „am Ende jeder Ausgabe gab es lange Spalten voller Termine“, sagt Plaga-Verse. 1941 verbot das NS-Regime den „Evangelist“, offiziell wegen Rohstoffmangels, „die Nazis wollten aber die konfessionelle Presselandschaft ausmerzen“, so der Theologe. Nach dem Krieg erreichte die Auflage nie wieder alte Stärke.

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Der Präses: Jakob Schmitt sticht in Plaga-Verses Studie hervor. „Die große Gestalt des Siegerländer Pietismus“ nennt der Wissenschaftler den Präses des „Vereins für Reisepredigt“ und Schriftleiter des „Evangelist“. Er habe nach dem Krieg maßgeblich zur Legendenbildung beigetragen, dass Evangelikale sich gegen den Nationalsozialismus positioniert hätten. Schmitt präge das pietistische Verständnis der eigenen Geschichte bis heute. Anhand seiner eigener Texte belegt Dr. Plaga-Verse, dass der den Nationalsozialismus positiv begleitet habe. „Er hat nie kritisch über die Nazis geschrieben und Hitler hoch gelobt“, sagt der Theologe.

„Der Evangelist im Siegerland“ ergriff nie Partei gegen Antisemitismus

Das einzige Mal, dass im „Evangelist“ für Juden Partei ergriffen worden sei, sei ein posthumer Nachruf auf den evangelischen Pfarrer Theodor Noa (Nikolaikirche) gewesen, der zu einem Viertel jüdisch war. Ansonsten: Kein Wort, etwa über die Pogromnacht und das Niederbrennen der Siegener Synagoge durch die Nazis.

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Zu dieser Zeit sei Antisemitismus im evangelikalen Milieu durchaus normal gewesen, „man hat das nicht groß hinterfragt.“ Vorherrschende Meinung: Die Juden hätten Jesus getötet und damit gegen den Willen Gottes gehandelt. Diese und weitere Eins-zu-Eins-Lesarten der Bibel seien unhinterfragt auf andere Kontexte übertragen worden. „’Ein Jude, der Christ wird, bleibt ein Jude – Christen zweiter Klasse’. Das steht so im ‘Evangelist’“, sagt Plaga-Verse.

Keine Allianz – aber der Versuch, sich der NS-Obrigkeit anzudienen

Dabei bildeten die Siegerländer Neupietisten und die eher religionsfeindlichen Nationalsozialisten keineswegs eine geschlossene Allianz. „Blut und Boden“ passte nicht zu einem orthodoxen Bibelverständnis, so Plaga-Verse, gleichwohl habe der „Evangelist“ immer wieder versucht, die Analogie zwischen christlichen Werten und grunddeutschen Tugenden zu demonstrieren, durch Militarismus etwa. „Das Soldatentum wurde nie kritisch hinterfragt“, so Plaga-Verse mit Blick auf das vierte Gebot.

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Nach dem Krieg begann schnell die Legendenbildung: Die Neupietisten hätten zu den „Guten“ gehört – ein Mythos. In erster Linie hatte die Gemeinschaftsbewegung ihre Kirchen, die Evangelien und die Bibel im Blick, „aber der Großteil war politisch auf Linie.“ Ohnehin seien Pietisten in ihrer Geschichte nie Demokraten gewesen: Vielmehr betrachteten sie den Monarchen als von Gott eingesetzte Ordnungsinstanz, Römer 13 sei dafür die zentrale Bibelstelle.

Bei den Allianzgebetswochen sei immer auch für die Obrigkeit gebetet worden – 1932 einmalig nicht. „33 aber natürlich wieder“, sagt Plaga-Verse. Nach neupietistischem Verständnis habe Gott Hitler eingesetzt, der damit aus ihrer Sicht legitimiert war, Krieg zu führen und „Ordnung zu schaffen“, erklärt der Forscher: „Spannend, wie man sich das zurechtgebogen hat.“ Das sei so weit gegangen, dass Erfolge auf deutscher Seite – etwa im „Blitzkrieg“ – als „Gottes Wirken“ erklärt wurden. Verfuhren die Kriegsgegner ähnlich, „war das Gotteslästerung“.

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