Siegerland. Vor 75 Jahren macht die Demokratie in Siegen und den Gemeinden im Umland erste Gehversuche. Strenge Nachhilfe leistet die Militärregierung.

2020 war ein Geschichtsjahr: Der zweite Weltkrieg war 75 Jahre zuvor beendet worden. 2021 wird andere Themen haben – trotzdem: Wie war das eigentlich vor 75 Jahren, im ersten Jahr der Nachkriegszeit, im Siegerland?

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Die Politik erwacht, und den ersten Skandal gibt es auch schon: Der Vorsitzende des Siegener Entnazifizierungsausschusses entpuppt sich als österreichischer Landsmann des Diktators, und „Professor Doktor“ ist der bei der CDU untergekommene Schneidergeselle auch nicht. Schulrat Hermann Engelbert – der, damals noch Lehrer in Kreuztal, von der Gestapo 1933 aus dem Klassenzimmer heraus verhaftet wurde – schimpft in einem Brief an seinen Freund, den Regierungspräsidenten Fritz Fries, über die „Bedombigkeit der städtischen Führung“ beim Aufbau der Schulen, die „bis jetzt noch nicht bis zur Frage der Errichtung von Not-Lokussen gekommen“ sei.

Hilchenbach

Die Protokolle der Gemeinde- und Stadträte sind am Anfang gefüllt mit der Bewältigung des Notwendigsten. Brennstoffzuteilung, Lebensmittelversorgung, Wohnungsbeschaffung, die Tilgung von Spuren: In Hilchenbach wird aus der Adolf-Hitler-Straße umgehend eine „Poststraße“, bevor dann später die Entscheidung für die „Herrenwiese“ fällt. Dort geht es zudem um die „Aufbauschule“: Das Gebäude des späteren Jung-Stilling-Gymnasiums ist noch von der „Stift Keppelschen Erziehungs- und Schulanstalt“ belegt, weil im Stift selbst die englische Militärregierung sitzt. „In aller Kürze“ sollen beide Schulen an den angestammten Orten weitermachen können, „nach Sichtung und Neuauffüllung des Lehrkörpers“.

Kreistag

Am 18. Dezember 1945 tagt der Siegener Kreistag zum ersten Mal. Ernannt wurden die Mitglieder in den Wochen zuvor von der Militärregierung, die wieder zugelassenen Parteien durften über zwei Drittel der Mandate mitbestimmen. Die Verteilung der Sitze richtet sich nach dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928, die CDU übernimmt das „Erbe“ der katholischen Zentrumspartei.

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Das Siegerland hat mittlerweile den dritten Landrat dieses Jahres. Nach Justus Weihe, dem letzten Landrat des NS-Regimes, und Fritz Fries, dem bald zum Regierungspräsidenten beförderten Sozialdemokraten, war der Stendenbacher Otto Schwarz (SPD) ins Amt gekommen. Auch in den Gemeinden bleiben vorerst die Männer an der Spitze, die von den Alliierten – wie es der Hilchenbacher Joseph Büttner formuliert – „anerkannter Garant für demokratische Überzeugungstreue“ sind, durchweg also die von den Nazis verfolgten Sozialdemokraten und Kommunisten.

Netphen

Ein Protokoll der Netphener Amtsvertretung aus dem März 1946 macht anschaulich, wie Kommunalpolitik damals aussah: Nummer 1 und 2 auf der Anwesenheitsliste sind die Vertreter der britischen Militärregierung. „In interessanten Ausführungen“, so der Protokollführer, habe Major Haley „einen Einblick in die Bemühungen der britischen Militärregierung“ gegeben, „die deutsche Selbstverwaltung nach dem Willen des Volkes aufzubauen“. Später heißt es: „Die britische Regierungsform werde durch ihn als die bessere angesehen.“ Ursprünglich stand „die beste“ an dieser Stelle im Protokoll, dieses Wort und ein folgender Satz mussten offenbar später gestrichen werden. In einer späteren Sitzung, nach der Kommunalwahl, belehrt „Mister Bush“ – so wird er im Protokoll aufgeführt – die Amtsvertreter: „Gemeindepolitik habe wenig mit Parteipolitik zu tun, und es dürfe nicht vorkommen, dass die Sitzungen zum Schauplatz politischer Debatten würden.“

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Zum Streit kommt es offenkundig, als über die Wohnungszuteilung gesprochen wird. „Major Haley kündigte an, dass sich die Militärregierung beim Auftreten größeren Widerstandes gezwungen sehe, ein ganzes Dorf zu räumen und Evakuierte statt der bisherigen Bevölkerung dort unterzubringen.“ Die „aus dem Osten nach hier Evakuierten“ sollten „am neuen Ort Wurzel fassen“. Gegen Jahresende 1946 befasst sich die Amtsvertretung mit dem Wunsch, in Netphen ein Kino zu eröffnen – und lehnt ab: „Weil die bis jetzt gezeigten Filme nicht im Sinne der religiösen Grundeinstellung der hiesigen Bevölkerung seien.“

Freudenberg

Wer unter den Nazis im Amt war, darf nicht zurückkehren: Das gilt auch für Remko Walter Siebel, den die Freudenberger kurz vor Kriegsende selbst zu ihrem neuen Bürgermeister gemacht haben, um den bisherigen Amtsbürgermeister Bald abzulösen. Der britische Kommandant setzt an Siebels Stelle Karl Ohrendorf ein – gegen dessen Willen: „Ich erklärte, dass ich mich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle. Ich sei alter Eisenbahner und möchte auch gern in meinem Beruf bleiben“, wird Ohrendorf in seiner Abschiedsrede vor dem Freudenberger Rat sagen.

Der Fall Moning

Viele Fürsprecher hat Dr. Erich Moning, bis 1945 Amtsbürgermeister in Kreuztal: Bereits der von den Briten ernannte Bürgerbeirat wollte den Kommunalbeamten zum stellvertretenden Landrat ernennen. Der Militärkommandant lehnt ab. Das gleiche passiert noch einmal im Frühjahr 1946. Da will der ernannte Kreistag Dr. Moning zum ersten Oberkreisdirektor des Landkreises wählen – in ein Amt, das Dr.Moning dann von 1947 bis 1962 tatsächlich bekleiden wird. „Herr Landrat“, sagte Dr. Moning Jahre danach zu Joseph Büttner, dem Mitbegründer der Siegerländer CDU und zeitweiligen Bürgermeister von Hilchenbach, „mich kriegen Sie nicht einmal mehr in einen Kaninchenzüchterverein, geschweige denn in eine politische Partei.“

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Ausblick

„Wenn wir jetzt beweisen, dass wir politisch reife Menschen sind, dann werden wir allmählich wieder frei und unabhängig“, mahnt der Freudenberger Amtsbürgermeister Ohrendorf in seiner Abschiedsrede, „dann wird unseren Kindern dereinst eine lichtere und glücklichere Zukunft beschieden werden.“

Hermann Engelbert, der Kreisschulrat aus Kreuztal, wird erst als 70-Jähriger 1950 in den Ruhestand gehen dürfen. Seine Stadtchronik schließt mit dem Ausblick auf neue Sorgen – das Warten auf die Gefangenen und Vermissten, das selbst mit der Rückkehr nicht immer glücklich endet: „Die Heimkehrer empfinden in vielen Fällen, dass sie schon vergessen waren, viele erleben auch, dass die Ehe unheilbar gebrochen wurde.“

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