Siegen. Polizei-Praktikantin spielte das Opfer, Täter wurde bei arrangiertem Treffen unter der HTS verhaftet. Jetzt steht der Mann in Siegen vor Gericht.

Er sei ein Sonderfall, muss sich der Angeklagte (22) gleich von mehreren Seiten vorhalten lassen. Was hart klingt, ist am Ende von Vorteil für den jungen Mann: Vor dem Jugendschöffengericht angeklagt ist er wegen sexueller Nötigung, verurteilt wird er schließlich wegen versuchter Nötigung. Ersteres hätte ihn locker ein paar Jahre ins Gefängnis bringen können.

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Vor zwei Jahren unternahm der Angeklagte etwas, „was er im Nachhinein als größten Fehler seines Lebens betrachtet“, formuliert Verteidiger Benedikt Sütter. Ende August 2018 vergaß eine Bekannte ihr Mobiltelefon im Auto seines Mandanten. Das Gerät war nicht durch eine PIN gesichert.

Angeklagter drohte mit Veröffentlichung der intimen Fotos

Der Angeklagte durchforstete die Dateien, fotografierte mehrere Bilder der jungen Frau, die sie in Unterwäsche zeigten und machte auch Aufnahmen von Videos, die beim Geschlechtsverkehr mit ihrem Lebensgefährten entstanden waren. Die schickte er seinem Opfer über eine Internetplattform, über die beide schon seit längerem in Kontakt standen. Was sie tun würde, damit diese Aufnahmen nicht an die Öffentlichkeit kämen, wollte er anonym von ihr wissen.

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Sie habe versucht Zeit zu gewinnen, sagt die heute 20-Jährige im Zeugenstand. Sie war entsetzt, beschloss aber relativ schnell, sich an die Polizei zu wenden: „Mir war klar, dass er das nicht löscht, egal, was ich tue!“ Die Beamten mühten sich, fanden aber keinen Anhaltspunkt auf die Identität des Täters über die Plattform, auf der niemand verpflichtet sei, sich mit realen Daten anzumelden. „Wir mussten in den sauren Apfel beißen und ein reales Treffen arrangieren“, berichtet einer der Polizisten. Die Zeugin wurde instruiert, den Erpresser bei Laune zu halten und nicht zu verärgern.

Gleich neben Zivilstreife geparkt und direkt verhaftet

Sie ging zum Schein auf dessen Spiel ein, verabredete sich für den 6. September mit ihm unter der HTS in Geisweid, schrieb dafür sogar ermunternde Nachrichten. Sie freue sich auf ihn, „saugeil“, er solle auf jeden Fall kommen. Teilweise habe sie das mit ihrem Freund gemeinsam formuliert, sagt die Auszubildende und betont, dass die Sache ihre Beziehung stark belastet hätte.

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Beim arrangierten Treffen wartete dann eine Praktikantin der Polizei, „die der Geschädigten ähnlich sah“, auf dem von Beamten überwachten Gelände. Sie wurde von den Einsatzkräften regelmäßig bis zuletzt über Chatnachrichten auf dem Laufenden gehalten. Als der Täter sich zögerlich näherte, „er hat seinen Wagen mehrfach umgeparkt“, schließlich direkt neben dem Fahrzeug der Zivilstreife zum Stehen kam und ausstieg, wurde er wenige Meter vor der Praktikantin festgenommen und überwältigt – die Polizisten hatten Sorge, möglicherweise einen gewaltbereiten Menschen vor sich zu haben.

Angeklagter zur Tatzeit ohne sexuelle Erfahrungen – „kein Gewalt-Sexualstraftäter“

Der Angeklagte wird vor Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen, entscheidende Passagen später mitgeteilt. Er hat gestanden und dem Gericht glaubwürdig vermittelt, in letzter Konsequenz keine reale Gefahr für die Geschädigte verkörpert zu haben. In seinen Posts hatte vorgetäuscht, dass ihm teure Autos gehören und eine damals fiktive eigene Wohnung, in der noch ein Freund für einen „Dreier“ warte. Er schlug dem Opfer demnach Gruppensex vor.

Alles nur sexuelle Fantasien im Kopf des Angeklagten, fasst Staatsanwältin Jahan Memarian-Gerlach zusammen und glaubt dem Mann, dass am Ende des Tages wohl nichts passiert wäre. Weil er in seiner ausführlichen Aussage eingeräumt hatte, damals keinerlei sexuelle Erfahrung gehabt zu haben: „Er ist kein Gewalt-Sexualstraftäter.“ Auch auf sein Opfer hatte er vorher einen eher stillen und schüchternen Eindruck gemacht, allerdings auch einmal um „Unterwäsche-Fotos“ gebeten, worauf sie den Kontakt für eine Weile abgebrochen hätte.

Er hatte es auch schon bei anderen, jüngeren Frauen versucht

Eine gemeinsame Freundin, durch die sie ihn einige Zeit vorher kennengelernt hatte, berichtete ihr im Nachhinein von ähnlichen Versuchen des Angeklagten bei anderen, jüngeren Frauen. Ein solches Verhalten aber hätte sie ihm nicht zugetraut. „Ich war schockiert“, sagt sie, als sie erfuhr, dass er der Täter ist.

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Für ihn sei es vordergründig „ein Test, wie weit sie wohl geht“ gewesen. Auf dem Parkplatz habe er gezweifelt, sich zu erkennen geben und entschuldigen wollen. Das hatte der Angeklagte bereits vor der Verhandlung erneut vergeblich versucht, im Gericht schließlich tut er es. Tatsächlich findet sich im Chat die Frage, ob sie beide das wirklich durchziehen sollten.

Vier kinderpornografische Fotos auf kaputtem Tablet gefunden

Die Jugendgerichtshilfe attestiert dem jungen Mann eine leichte Reifeverzögerung. Beruflich stehe er „mit beiden Beinen fest im Leben“, weise aber in emotioneller Hinsicht, auch in Bezug auf das andere Geschlecht, deutliche Defizite auf. Das sei zumindest nicht völlig auszuschließen, betonen auch der Nebenklagevertreter, sein Anwalt und schließlich das Gericht.

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Es gibt noch einen zweiten Anklagepunkt: den Besitz von vier kinderpornografischen Fotos auf einem defekten iPad, im Gesamtzusammenhang aber eher nebensächlich. Denn die waren schon 2015 heruntergeladen worden, „mein Mandant erinnert sich nicht daran“, sagt der Verteidiger.

Richterin: „Massive Beeinträchtigung des Opfers“

Richterin Dr. Sandra Al-Deb’i-Mießner und ihre Schöffen sprechen nach mehr als fünf Stunden Verhandlung eine Verwarnung aus, verzichten auf eine Maßregel gegen den nicht vorbestraften 22-Jährigen. Er muss seinem Opfer, das nach wie vor Angst hat, allein auf die Straße zu gehen, 3000 Euro Schmerzensgeld zahlen, weitere 500 an den Weißen Ring. Daneben wird ihm auferlegt, mindestens sechs Termine in der Beratungsstelle „Echte Männer reden“ wahrzunehmen.

„Das war ein Ritt auf der Rasierklinge“ nimmt die Vorsitzende einen Begriff auf, den der Nebenklagevertreter zuvor warnend benutzt hat. Das Vorgehen des Angeklagten sei eine massive Beeinträchtigung des Opfers. „Das muss grausam gewesen sein“, überlegt die Richterin, mit der Angst zu leben, dass Fotos aus dem intimsten Bereich „auf der ganzen Welt zu sehen sind“. Bei einem anderen Ausgang hätten hohe Strafen verhängt werden können. Sie hoffe, dass dies eine Lehre sei und der Mann nicht wieder im Gericht vorstellig werden müsse. Dann „wird es massiv für Sie“.

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