Siegen. „Das Grundgesetz ist in Worte gegossener Antifaschismus“: Mehmet Daimagüler mahnt am Platz der Synagoge in Siegen, Antisemitismus zu bekämpfen.

„Teil der Wahrheit ist: Ganz normale Bürger waren an den Pogromen beteiligt, ohne Zwang oder Befehl griffen sie Nachbarn und Freunde an.“ Mehmet Daimagüler mahnte bei der Gedenkstunde am Platz der Synagoge in Siegen anlässlich der Zerstörung des jüdischen Gotteshauses während der nationalsozialistischen Novemberpogrome 1938 eindringlich, sich dem in der Gesellschaft verankerten und teils akzeptierten heutigen Antisemitismus entgegenzustellen: „Wenn wir unser eigenes Verhalten jeden Tag hinterfragen, machtvoll zusammenstehen gegen Hetzer und Spalter, dann ehren wir die Opfer der Pogrome in besonderer Art und Weise“, so der Anwalt und Autor am Dienstag, 10. November.

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Ein Gedenken mit und trotz Corona-Auflagen sei zur Zeit dringender als je zuvor, angesichts eines Antisemitismus, der sich immer offener zeige, so Raimar Leng, Ev. Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (CJZ). Es mache Mut zu sehen, dass die Bevölkerung deutlich mache, dass Antisemitismus in Siegen keinen Platz hat.

„Jeder Nazi ist ein Antisemit, aber nicht jeder Antisemit ist ein Nazi“

Denn auch in Siegen wurden vor 82 Jahren zuerst Menschen angriffen, betonte Mehmet Daimagüler. „Geschichte darf nicht zerrinnen zu Daten und Fakten“, erinnerte er etwa an den Synagogenvorsteher von Baden-Baden, der misshandelt und gezwungen wurde, aus „Mein Kampf“ zu zitieren, während seine Gemeinde ein SA-Lied singen musste. Oder an 180 Männer, die in einer Erfurter Turnhalle Leiterwände erklimmen mussten, während Nazis sie mit Reitpeitschen schlugen. An die, die hinterrücks erschossen wurden; die sterben mussten, „weil sie Juden waren. Männer, Frauen, Kinder, Arme, Wohlhabende“.

Mehmet Daimagüler. 
Mehmet Daimagüler.  © Hendrik Schulz

Mit einem Zitat William Faulkners – „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“ – mahnte Daimagüler, dass ein Schlussstrich kaum möglich sei: „Es geht nicht um persönliche Schuld. Es geht um Verantwortung für Gegenwart und Zukunft. Wir müssen Antisemitismus in jeder Erscheinungsform bekämpfen.“ Das sei nicht nur der Antisemitismus der Rechtsextremen und Islamisten, sondern etwa der, der als Israelkritik daherkomme oder als angebliche Satire oder die „beschämende Beschneidungsdebatte“ von 2012. „Jeder Nazi ist ein Antisemit, aber nicht jeder Antisemit ist ein Nazi“, so Daimagüler; Antisemitismus sei auch in den Köpfen von Verwandten, Freunden und Kollegen, „spukt auch in unseren Köpfen.“

Daimagüler in Siegen: Heimat darf kein Begriff der Ausgrenzung sein

Dies zu bekämpfen, „am Küchentisch, beim Geburtstag des Onkels – da tut es weh.“ Immer noch müssten Juden fürchten, mit Kippa in die Stadt zu gehen, „eine Schande für uns alle!“ Daimagüler forderte Grundkonsens der Demokraten bei der Verteidigung demokratischer Werte. „Das Grundgesetz ist in Worte gegossener Antifaschismus“; Polizisten, die Hakenkreuze posten, gehörten rausgeschmissen, Hasskriminalität strafrechtlich verfolgt, Kinder müssten mündige Bürger werden und nicht anhand eines „durchökonomisierten Leitbilds“ erzogen. „Deutschland ist unsere gemeinsame Heimat. Eine gute Heimat. Lassen Sie sie uns verteidigen gegen Hetzer und Menschenhasser, damit Heimat kein Begriff der Ausgrenzung ist.“

Die aufgezeichnete Veranstaltung steht online bereit: www.cjz-siegen.de.

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