Siegen-Wittgenstein. Prostituiertenberatungsstelle Tamar ist in Corona-Krise damit beschäftigt, den Frauen bei Existenzsicherung zu helfen. Nicht immer gelingt das.

Der Kreis Siegen-Wittgenstein unterstützt weiter als einziger der fünf südwestfälischen Kreise die Prostituiertenberatungsstelle Tamar. Weil zwischen März und September alle Prostitutionsbetriebe wegen der Corona-Pandemie geschlossen bleiben mussten, war der Beratungsaufwand der Sozialarbeiterinnen in der Region geringer – dennoch bestand intensiver Kontakt zu den Frauen, sagt Pfarrerin Birgit Reiche, Leiterin von Tamar.

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Die Finanzsituation der Prostituiertenberatungsstelle Tamar

Bis April finanzierten die EU und das Land NRW die Prostituiertenberatungsstelle mit. Eine weitere Förderung der Arbeit in Südwestfalen hat nur der Kreis Siegen-Wittgenstein mit 33.000 Euro zugesagt. „Nicht gerade ein großer Wurf“, wie Cornelia Busch-Pfaffe, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, anmerkt. Der Kreis Soest etwa hatte einen Sperrvermerk eingefügt: Geld gebe es nur, wenn die anderen Kreise auch zahlen. Die befristeten Arbeitsverträge zweier von vier Mitarbeiterinnen konnten daher nicht verlängert werden, sagt Birgit Reiche, „wir bedauern das sehr“.

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Weil Tamar seit April coronabedingt nicht im beauftragten Umfang in Siegen-Wittgenstein tätig war, werde die volle Fördersumme nicht benötigt und bleibe beim Kreis, so Reiche. Man habe erneut Förderanträge in allen Kreisen gestellt und sehe sich nach weiteren Projektmitteln um. Manche Kreise hätten signalisiert, dass sie sich eine Förderung vielleicht vorstellen könnten. „Wir gehen davon aus, dass wir unsere Arbeit weiterführen können“, sagt Birgit Reiche, aber dazu brauche es eine verlässliche Finanzierung. „Wir wissen, was wir für ein Beratungsangebot machen müssen – aber ohne Geld können wir es auch irgendwann lassen.“

Was die Corona-Krise für Prostituierte in Siegen-Wittgenstein bedeutet

Die Arbeit habe in der Krise enorm zugenommen, gerade aus Siegen-Wittgenstein hätten Tamar sehr viele Anfragen erreicht, berichtet die Pfarrerin im Kreisgesundheitsausschuss. Nachdem das Tätigkeitsverbot verhängt wurde, habe man eine Woche gar nichts mehr gehört – und als dann klar war, dass die Frauen an den Prostitutionsorten bleiben dürfen, habe das Telefon nicht mehr aufgehört zu klingeln, erzählt Sozialberaterin Sabine Reeh.

Arbeit der Beraterinnen

41 Prostituierte hat Tamar seit April in Siegen-Wittgenstein intensiv betreut.

26 Anträge auf Arbeitslosengeld II wurden seither mit Unterstützung der Beratungsstelle betreut, ebenso viele beim Berufsverband sexueller Dienstleistungen.

13 Begleitungen zum Arzt führten die Sozialarbeiterinnen durch, sechs Mal begleiteten sie zur Schwangerschaftskonfliktberatung, weitere sechs Mal zur Krankenversicherung, um die Kostenübernahme der Schwangerschaftsunterbrechung zu organisieren.

2 Prostituierte wurden zum Jugendamt begleitet, zwei beim Antrag auf Kindergeld und Unterhaltungsvorschuss unterstützt, in 16 Fällen ging es um die Aufnahme der Klientinnen in die Krankenversicherung bzw. um die Stundung von Krankenversicherungsbeiträgen.

Seither sei die Beratungsstelle in erster Linie mit dem Thema Existenzsicherung der Frauen beschäftigt – sie verfügten schlagartig über keinerlei Einkünfte mehr, einige sahen sich gezwungen, illegal der Prostitution nachzugehen. Sabine Reeh berichtet von einer Klientin, die sie in Siegen-Wittgenstein vor einiger Zeit kennengelernt hatte und die sie in der Krise in Dortmund wiedertraf: „Ich habe sie nicht wiedererkannt. Sie arbeitete auf dem Straßenstrich, das Äußere verändert sich unter solchen illegalen Bedingungen. Sie sah sich gezwungen, trotz alledem weiterzuarbeiten.“

Tamar kann manche Prostituierten aus Siegen-Wittgenstein in neue Arbeit vermitteln

Tamar half den Frauen dabei, Anträge auf Arbeitslosengeld oder auf Unterstützung aus dem Fonds des Berufsverbands sexueller Dienstleistungen zu stellen – aufwändig und schwierig am Telefon oder seltener via Video. Die deutsche Bürokratie ist für viele der oft aus Südosteuropa stammenden Frauen eine enorme Hürde. Die Sozialarbeiterinnen luden Campingmöbel in ihren Beratungsbus und trafen sich mit den Frauen in der Natur, in einem Fall hatte ein Bordellbetreiber eine Art Stuhlkreis unter Corona-Bedingungen vorbereitet und die Beraterinnen zu einer Art Gruppenberatung eingeladen.

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Wo möglich, half die Beratungsstelle bei einem beruflichen Wechsel – durchaus häufiger etwa als Erntehelferinnen, weil der Landwirtschaft die Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa fehlten. Sabine Reeh: „Dass die Prostituiertenberatung in der Landwirtschaft anruft, um ‘andere’ Osteuropäer zu vermitteln...“ Andere konnten in geringfügige Beschäftigungen vermittelt werden, für Lagerarbeiten in Supermärkten beispielsweise – einige wenige konnten auch dauerhaft jenseits der Prostitution Jobs finden. Bei Lebensläufen und Bewerbungen, Mietstundungen, Jobrecherchen und Behördengängen zu unterstützen sei enorm aufwändig gewesen, sagt Reeh.

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