Hilchenbach. Neun Monate lang hat sich Sascha Rötz um Jugendliche gekümmert, die auf der Kippe stehen. Sein Fazit: Es gibt Wichtigeres als Ruhe und Ordnung.
Sie kommen aus armen Verhältnissen, sind schlecht in der Schule, nehmen Drogen, tragen rechtsradikale Ansichten zur Schau. Sie bilden Cliquen, die gegeneinander rivalisieren. Sie treffen sich auf dem Marktplatz, auf der Gerichtswiese, in der Dahlbrucher Ortsmitte. Die, die arbeiten gehen oder eine Lehre machen, für ein Feierabendbier. Die anderen einfach zum Abhängen. Sie machen Lärm, sie machen Müll. Es ist kein schönes Bild, das Sascha Rötz vor den Mitgliedern des Sozialausschusses ausbreitet – für den einen oder anderen ein neues Bild.
Das Projekt
Ein Dreivierteljahr lang konnte der Sozialpädagoge, zeitweise unterstützt von Honorarkräften und Ehrenamtlichen, als Streetworker in die Szene eintauchen. Das Misstrauen gegen den vermeintlichen „Spitzel“ der Behörde sei groß und nicht bei allen auszuräumen gewesen. „Als Gast wurde ich bestenfalls geduldet“, berichtet Sascha Rötz, „und selbst das hat lange gedauert.“
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Um die 100 Jugendliche „mit riskanten Verhaltensweisen“ hat Sascha Rötz schließlich kennen lernen können, mit ihnen über ihren Konsum und Suchtprävention gesprochen, Kontakte zu Beratungsstellen hergestellt, in Konflikten vermittelt, einige auch in schwierigen Situationen beraten.
Zur „präventiven Jugendarbeit“ – das ist der fachliche Titel zum Projektnamen „Legalize Freundeskreis“ – gehörte ein Runder Tisch mit Polizei, Ordnungsbehörde, Schulsozialarbeit und Jugendhilfeeinrichtungen. der sich bisher zwei mal getroffen hat. Die Fachleute stellen fest, dass Hilchenbach „mit den Problemlagen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen kein Alleinstellungsmerkmal“ habe. Dazu gehört dann auch, dass die Schüler und Schülerinnen, die durch „stark respektloses und aggressives Verhalten“ auffallen, „immer jünger“ sind. Sascha Rötz hat sie für kleine Aktionen gewonnen: Basketball spielen und Kickern auf der Gerichtswiese; für einige, die durch illegales „Taggen“ bereits aufgefallen sind, gab es einen mehrwöchigen Grafitti-Workshop.
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Die Konflikte
Die Berichte über Zusammenstöße zwischen Jugendlichen, die sich im Bereich von Gerichtswiese und Marktplatz aufhalten, auf der einen Seite und Anwohnern oder Familien, die mit ihren Kindern zum Spielen kommen, auf der anderen, sind endlos. „Die Anwohner beschweren sich seit Jahren“, erinnert Juliane Müller (UWG) – ob denn von den Jugendlichen „Einsicht“ zu erwarten sei? „Ich habe das als Projekt für die Jugendlichen gesehen“, erwidert Sascha Rötz, „nicht für die Anwohner, die ihre Ruhe haben wollen.“
Sascha Rötz spricht Klartext: Konfrontationen, wie sie in Online-Foren geschildert werden, habe er nicht erlebt. Er könne sich vorstellen, dass Jugendliche mit ihrem Verhalten „Dampf ablassen“. Die Ansprache von Seiten der Erwachsenen sei entsprechend: „Wenn jemand mit mir so reden würde, würde ich auch so reagieren.“ In seinem schriftlichen Bericht kritisiert der Sozialpädagoge, dass Beschwerdeführer nicht an einer Lösung, sondern an der Verlagerung des Problems an einen anderen Ort interessiert seien. „Die Devise in Hilchenbach sollte künftig nicht mehr lauten: ‘Aus den Augen, aus dem Sinn’.“
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Das Projekt ist mit dem Corona-Lockdown abrupt zu Ende gegangen, „danach waren die Jugendlichen nicht mehr erreichbar“, berichtet Sascha Rötz, der längst in einem neuen Projekt weiter arbeitet, das ebenfalls vom Jugendkultur-Förderverein Push getragen wird und Jugendbeteiligung anregen will: „Bitte deinen Senf dazu“ ist auch eine Fortsetzung von „Legalize Freundeskreis“, wo der Wunsch nach Beteiligung und Mitgestaltung öffentlicher Plätze und Räume geäußert wurde.
Für Kinder und Jugend
Der Push-Verein hat sich von einer Gruppe, die jungen Bands Probenräume schaffen wollte, zu einem Förderverein der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt.
Neben den jährlichen Push-Festivals sind die Uzing Crew auf dem Dirt-Bike-Park, die Tanzgruppe Unique und Projekte wie „Legalize Freundeskreis“ unter seinem Dach angesiedelt.
Die Perspektive
Präventive Jugendarbeit müsse weitergehen, fordert Tomas Irle (CDU), „das versickert sonst.“ „Das darf nicht am Geld scheitern“, warnt Betty Roth (SPD) als amtierende Vorsitzende des Ausschusses. „Wir tun alles, um das Thema anderweitig nach vorn zu bringen“, sagt Heike Kühn vom Kinder- und Jugendbüro. An die Zielgruppe, die Sascha Rötz als Push-Mitarbeiter habe erreichen können, „kommen wir in den Jugendzentren aber nicht ran.“ Nicht die Aneinanderreihung von Jahresprojekten, sondern die dritte Stelle im Jugendbüro sei da wohl die Lösung, meint Katrin Fey (Linke).
Karl-Heinz Jungbluth (FDP) macht deutlich, dass Problemlösung in Hilchenbach Zeit braucht: Schon in den 1980er Jahren habe er, damals als Mitarbeiter des Jugendamts, Jugendliche auf der Rathaustreppe („Die sind heute Großeltern“) erlebt: „Ich wäre damals froh über einen Streetworker gewesen.“ Kaum vermittelbar sei, dass die Stadt diese Stelle nicht schaffe, aber eine Million Euro in die Verschönerung des Marktplatzes investieren wolle. Stadtrat Christoph Ermert spielt den Ball als Kämmerer zurück: Es sei Sache des Rates, Prioritäten zu setzen. „Er muss dann aber auch dahinterstehen.“
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