Siegen. Der Siegener Politikwissenschaftler Robert Kaiser erklärt, warum Grundrechte eingeschränkt werden können.

Das Corona-Kontaktverbot bedeutet in juristischer Hinsicht eine Beschränkung der verfassungsmäßigen Bürgerrechte. Das Infektionsschutzgesetz setzt aktuell unter anderem das Recht auf Freizügigkeit, auf Versammlungsfreiheit oder auf Unverletzlichkeit der Wohnung außer Kraft. Dahinter steckt ein kompliziertes Rechtsgebilde, erklärt der Politikwissenschaftler Robert Kaiser, Professor für politische Theorie an der Universität Siegen.

Was ist die aktuelle rechtliche Basis in Deutschland?

Die Konstruktion ähnelt einer Kette von Gesetzen und Zuständigkeiten, erläutert Prof. Kaiser: Ausgangspunkt ist das Bundesinfektionsschutzgesetz. Das ermächtigt im föderalen System die Länder, die Freiheit des Einzelnen zu beschränken – Bundesbehörden sind nicht zuständig, in der Legitimationskette sind die Länder befugt, Rechtsverordnungen zu erlassen.

Auch interessant

Deswegen sind in Bayern und Nordrhein-Westfalen auch unterschiedliche Dinge erlaubt oder verboten: Bei uns dürfen sich zwei Fremde treffen, in Bayern nicht. Das Maßnahmenpaket mit Kontaktverbot, die Anordnung der Schließung bestimmter Geschäfte ist Landesrecht – und das übersteuert seit Inkrafttreten auch die vorher geltenden Allgemeinverfügungen von Kommunen und Kreisen.

Auch interessant

So hatten sich Städte und Gemeinden in Siegen-Wittgenstein beispielsweise darauf verständigt, dass auch Blumenläden geschlossen bleiben mussten – das ist von der NRW-Regierung nicht vorgesehen, die Blumenläden dürfen wieder öffnen.

Warum muss das Parlament solchen Maßnahmen nicht zustimmen?

In gewisser Weise hat der Bundestag schon zugestimmt – vorbeugend, sozusagen. „Die Parlamentsmitwirkung hat dadurch stattgefunden, dass der Bundestag das Infektionsschutzgesetz verabschiedet hat“, sagt Prof. Kaiser. Und dieses Gesetz ist Basis für den Grundrechtsentzug.

Darf die Polizei alles?

Nein. Die Grundrechte, die außer Kraft gesetzt werden können sind ausdrücklich im Infektionsschutzgesetz aufgelistet. Und Grundrechteentzug gibt es ja auch in normalen Zeiten: Wenn die Polizei einem Randalierer einen Platzverweis erteilt zum Beispiel – ein Eingriff in dessen Grundrechte.

Auch interessant

„Da können Sie auch nicht das Parlament beteiligen“, sagt Kaiser. Wenn die Polizei aber den Verdacht hat, dass in einer Privatwohnung mehr als zwei Menschen, die nicht miteinander verwandt sind oder dort gemeinsam leben, feiern – dann darf sie sich Zutritt verschaffen und die Feier unterbinden.

Gibt es eine zeitliche Befristung?

Nein. Die Parlamente von Land und Bund können die Regierungen nicht dazu nötigen, die zur Zeit geltenden Rechtsverordnungen außer Kraft zu setzen. So lange die Regierung anordnet, dass vom Coronavirus eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung ausgeht und daher bestimmte Dinge verboten sind, greift das Infektionsschutzgesetz. Robert Kaiser vermutet allerdings, dass die Regelungen irgendwann aufgeweicht werden – und das in verschiedenen Ländern unterschiedlich.

Justiz-Wiki

§ Auch wenn das Infektionsschutzgesetz greift: Die Grundsätze des Polizeigesetzes, zu dem es gehört, gelten weiter, etwa Verhältnismäßigkeit und Ermessen. Auf Basis des Infektionsschutzgesetzes können die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der Versammlungsfreiheit, des Brief- und Postgeheimnisses und der Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt sowie ein berufliches Tätigkeitsverbot verhängt werden.

Die Regierung wägt ab zwischen dem Gesundheitsschutz und wirtschaftlichen Beeinträchtigungen – und das könnte dazu führen, dass die Wirtschaft beispielsweise in Bayern länger Pech hat als in Nordrhein-Westfalen. Es sei durchaus vorstellbar, dass irgendwann ein Bundesland die Beschränkungen lockern werde, um die Wirtschaft nicht weiter zu gefährden, meint Kaiser. Dann könnten womöglich nur noch gefährdete Personen isoliert werden, während das Kontaktverbot für den Großteil der Bevölkerung wieder aufgehoben wird. Schweden und auch die Niederlande verfahren nach diesem Prinzip.

Gibt es eine Möglichkeit, dagegen vorzugehen?

Betroffenen stehen weiterhin die rechtsstaatlichen Möglichkeiten offen: Die Verfassungsgerichte müssen dann prüfen, ob die Gefahrenlage, die das Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetz ausgelöst hat, tatsächlich noch existiert, erklärt Kaiser: „Die Bürger sind nicht reaktionsunfähig.“ Aber es müssen eben die Bürger selbst sein, die zu Rechtsmitteln greifen, die Parlamente als Volksvertretungen haben hier keine rechtliche Handhabe.

Mehr Nachrichten, Fotos und Videos aus dem Siegerland gibt es hier.

Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook.

Das Corona-Newsblog aus dem Siegerland finden Sie hier.