Netphen. Von der Sieg an die Weltmeere: Das Netphener Unternehmen Amova gründet Boxbay, das die Hafenlogistik unter anderem in Dubai revolutioniert.
Das Schiff legt an, der Kaikran greift sich die Container, einen nach dem anderen, setzt sie auf dem Kai ab. Von dort werden die Container mit automatischen Fahrzeugen zu den 25 elfstöckigen Regalreihen transportiert. Die Container werden von kranähnlichen Apparaten, den Regalbediengeräten, vertikal und horizontal an ihren Platz gefahren.
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Andere Container werden von ihrem Platz abgeholt und auf Paletten gesetzt, die unter dem Lager hin- und herfahren, mal hier und mal da von Regalbediengeräten von ihrer Fracht erleichtert oder neu beladen werden. So gelangen sie auf die andere Seite des 250 Meter breiten und 600 Meter langen Regalturms, wo Tieflader-Lkw auf der Fahrbahn bereitstehen. Am Ende legt das mit 20.000 Containern neu beladene Schiff wieder ab. Im Animationsfilm dauert das keine drei Minuten.
Der Schauplatz – oder: Wo ist Boxbay?
Der Frachtumschlag am Hafen ist keine Szene aus einem Simulationsspiel wie etwa SimCity. Das Spiel könnte Boxbay heißen. Wenn es eins wäre. Aber Boxbay gibt es wirklich: ein Unternehmen, das die zur SMS group gehörende Netphener Amova und die Dubai Ports World (DP World) gegründet haben. Auch der Schauplatz ist real: das Terminal in Jebel Ali/Dubai.
Und die Baustelle: Zur Weltausstellung Expo 2020 in Dubai, die am 20. Oktober eröffnet wird, wird die erste Anlage dieser Art in Betrieb gehen. Viele sollen folgen: „Für uns wird das in absehbarer Zeit der mit Abstand größte Bereich werden“, sagt Amova-Geschäftsführer Bernd Klein. Die SMS group ist auch selbst direkt mit in das Joint Venture eingestiegen: „Wir sehen darin für die ganze Region ein Riesenpotenzial“, sagt Unternehmenssprecher Thilo Sagermann.
Die Idee – oder: Wie kommen die Netphener an die See?
„Start Moving“, steht als Motto auf den Visitenkarten der Amova. Sachen bewegen: Das geschieht in den Hochregallagern, mit denen das Unternehmen schon seit Mitte der 1950er Jahre die Industrie versorgt. Gelagert werden müssen tonnenschwere Coils mit Bändern aus Stahl oder Aluminium. Seit 2013 stehen Hochregallager, die in Netphen konstruiert werden, auf Flughäfen: das größte in Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens.
Bei einem unternehmensinternen Workshop wurde schnell klar, dass Amova sich nun noch um die Häfen kümmern könnte. „Schwere Lasten zu transportieren“, sagt Dr. Mathias Dobner, Chef der später gegründeten Boxbay, „das passt sehr gut zu uns.“
Erkundungen – oder: Was man über Bücherkisten lernen kann
Die Netphener Logistikfachleute schauen sich Häfen an. Jede Menge Container, die auf-, ab- und umzuladen sind. Die stehen dann da – übereinandergestapelt, so hoch es eben geht, in Türmen nebeneinander, immer mit Platz genug dazwischen für die Riesengabelstapler, die dort Straddle Carrier heißen. Das Problem, das entsteht, kennt jeder, der zu Hause Bücherkisten stapelt, statt die Bände auf Regalbrettern anzuordnen: Wenn man an die zweite Kiste von unten will, muss man die vier darüber erst einmal wegheben.
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„Je höher Sie stapeln, desto langsamer wird das Lager“, erklärt Dr. Dobner. Man stapelt aber hoch, um teure Fläche zu sparen. Volker Brück, bei Amova für die Hafenlogistik verantwortlich, spricht von „unproduktiven Moves“, die einen Umschlag um bis zu 60 Prozent verteuern können. Kurz und gut: Selbst mit autonomen Fahrzeugen und bei gedrängtester Platzausnutzung ist bei 1500 TEU pro Hektar Schluss. „Da ist dann irgendwann das Ende der Fahnenstange“, sagt Dr. Dobner. „TEU“ ist die Abkürzung für „Twenty Foot Equivalent Unit“, die Maßeinheit für 20 Fuß lange Container.
Die Erfindung – oder: Was Netphener den Häfen bieten können
„Wir haben eine Menge Gespräche geführt“, berichtet Amova-Chef Bernd Klein, „uns ist eine Menge Skepsis entgegengeschlagen.“ Die Hafenbetreiber hatten Lieferanten von Kränen und Fahrzeugen an der Hand, aber keine Erfahrung mit Logistiksystem-Anbietern vom Festland. „Wir haben in einer relativ frühen Phase unser Vorteile darstellen können“, berichtet Volker Brück, „und unser Angebot immer marktgerechter gestaltet.“ Bis zu elf Etagen, als 50 Meter hohe Regale, in deren Fächer bis zu 40 Tonnen schwere Container eingehängt werden. Die Regalbediengeräte bewegen die Container von und zu den unterirdischen Transportpaletten, ohne jemals um den ganzen Regalturm oder auch nur einen Teil davon herumfahren zu müssen.
Überflüssige Wege, im Jargon: Unpaid Moves? „Bei uns Null“, sagt Brück. „Das ist die bahnbrechende Idee“, sagt Dr. Matthias Dobner. Unterm Strich: 3000 TEU pro Hektar. Der Flächenbedarf: auf ein Drittel reduziert. Die Leistung beim Be- und Entladen der Schiffe: die doppelte Menge in derselben Zeit. „Jede Innovation hat ihre Zeit“, sagt Boxbay-Chef Dobner. Die für die Netphener ist jetzt gekommen. Die Schiffe werden breiter und tiefer. In Kürze werden die Containerschiffe bis zu 260.000 TEU mit sich führen können. Solche Fracht braucht Platz an Land. Häfen lassen sich immer schwerer vergrößern. „Auch der Sand, den man zum Aufschütten braucht, wird immer teurer“, sagt Dr. Dobner. Und die Zeit knapper: Die schweren Schiffe haben solchen Tiefgang, dass sie aus manchen Häfen nur noch bei Flut auslaufen können. „Man will dann nicht weitere zwölf Stunden warten.“
Dubai – oder: Wo der Endspurt zur Weltausstellung beginnt
Und jetzt kommt Dubai. „Wir sind durch die Welt gezogen“, berichtet Bernd Klein. In Dubai passte alles zusammen: SMS hat dort ein Büro, Hafenbetreiber DP World ist mit fast 80 Terminals in 40 Ländern auf allen Kontinenten einer der größten der Welt. „Man ist dort sehr offen für neue Ideen.“ Ende 2016 wird ein erstes, 2017 ein zweites Konzept erarbeitet und schließlich die Pilotanlage verabredet. Im Oktober 2018 wird das Joint Venture Boxbay gegründet. Auf der Hafenlogistikmesse TOC in Rotterdam wird das Projekt 2019 erstmals vorgestellt, „die Resonanz war extrem gut.“ Anfang Dezember sind die ersten Werkstatttests gelaufen. „Erfolgreich.“
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Ende Januar gehen die Geräte in Constanta, auch ein Hafen von DP World, aufs Schiff ins Schwarze Meer – seit 2003, als die Werkstatt in Netphen geschlossen wurde, fertigt Amova unter anderem in Rumänien. Ab März erfolgt die Montage in Dubai. Zur Weltausstellung werden die ersten zwei von 25 Gassen der elf Etagen hohen Anlage in Betrieb sein, danach erfolgt der Ausbau zur Großanlage mit der Gesamtlänge von 600 Metern. Aufs Dach werden übrigens Solarmodule montiert. Die erzeugen so viel Strom, dass er für den Betrieb ausreicht.
Netphen – oder: Wie alles zusammenpasst
Und hier? „Dubai ist ein Leuchtturmprojekt“, sagt Amova-Chef Bernd Klein, „es gibt schließlich sehr viele Häfen.“ Auch die in Europa und Deutschland platzen irgendwann aus den Nähten. Boxbay, sagt Klein, „ist ein Highlight für Amova und die Gruppe.“ Das Unternehmen in Netphen soll wachsen, wird einen neuen Schwerpunkt bekommen, sucht – wie die ganze Gruppe – Fachkräfte auch für die Standorte im Siegerland. Die SMS group sieht das Netphener Vorhaben im Zusammenhang von „New Horizon“: die 2018 ausgerufene Strategie, Technologien der Metallurgie in andere Branchen zu übertragen.
Dass die Hafenlogistik digital gesteuert wird, versteht sich: Den Überblick über die Regale hat die „Amova Intelligence“: „Wir haben hier eine extrem gut ausgebildete Gruppe von Software-Ingenieuren“, sagt Bernd Klein. Und nicht nur die: Für die Animationen und für die Bedien-Software des Hafenlagers hat Amova tatsächlich Spieleprogrammierer angeheuert. Ja, die SMS group ist auf der Gamescom in Köln dabei. Und nein, Boxbay ist wirklich kein Computerspiel.
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