Mudersbach/Niederschelderhütte. Birgit Gerhardus trifft zur richtigen Zeit die richtigen Menschen. Trotz unheilbarer Krankheit ist sie positiv und hilft anderen Betroffenen.
„Ich habe drei 3000er Gipfel bestiegen“, sagt Birgit Gerhardus und lächelt. „Ich bin da zwar im Schneckentempo hoch – aber immerhin.“ Mit im Gepäck: ihr neues Inhaliergerät. Es wiegt nur 200 Gramm statt wie früher vier Kilo. Ohne das geht gar nichts. Mehrmals am Tag muss Birgit Gerhardus starke Medikamente inhalieren. Das Gerät schenkt ihr Freiheit und macht die Tour durch die Alpen überhaupt möglich. „Es ist ein total erhabenes Gefühl, das erleben zu dürfen. Der Ausblick war sehr beeindruckend“, schwärmt Gerhardus. Hinter ihr liegen mal wieder harte Monate. Umso schöner ist die Erinnerung an die einwöchige Wandertour mit ihrem Ehemann Klaus. „Solche Momente sind Geschenke.“
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Mittlerweile fallen in der Heimat die ersten Blätter, es wird kälter. Birgit Gerhardus sitzt vor einem gigantischen Bücherregal und trinkt einen dampfenden Kaffee. Immer wieder muss sie extrem stark husten. Ihr Körper bebt dabei. Es ist kräftezehrend, doch sie lächelt. Ihr Haus ist gemütlich – gemeinsam mit ihrem Mann wohnt sie hier. Hund und Katze wuseln durchs Zimmer. 53 Jahre ist Birgit Gerhardus alt. Damit hätte sie selbst nie gerechnet. Ihr persönliches Ziel war es früher, 30 zu werden, sagt sie. Denn als ein Arzt durch Zufall vor 32 Jahren entdeckt, wieso Birgit Gerhardus bereits ihr ganzes Leben lang leidet, müsste sie laut Prognose bereits seit drei Jahren tot sein. Sie hat Mukoviszidose. Eine angeborene Stoffwechselerkrankung, die tödlich ist und Ewigkeiten nicht behandelt wurde. „Ich war 21 und habe beschlossen: Das habe ich nicht!“ Birgit Gerhardus erlebt in ihrem Leben viele Tiefschläge und wird von ihrer Krankheit immer wieder herausgefordert, doch für sie ist das Glas immer halbvoll, statt halbleer. Sie ist eine Mutmacherin.
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Bereits als Säugling ist Birgit Gerhardus anders. Ihre Verdauung spielt verrückt. „Es hieß: Das haben Kinder schon mal“, erinnert sich die 53-Jährige. Ständig hat sie Verstopfung und starke Bauchschmerzen. „Man gewöhnt sich mit der Zeit daran“, sagt sie. Denn helfen kann ihr niemand so richtig. „Ich hatte auch ständig Lungenentzündungen und war im Kindergartenalter immer erkältet.“ Vieles durfte oder konnte sie nicht – von Schwimmunterricht oder etwa einem Ausflug ins Zeltlager konnte Birgit Gerhardus nur träumen. Ihre Eltern fahren mit ihr von Arzt zu Arzt. Als sie auf die weiterführende Schule geht, entdeckt ein Facharzt einen Schatten auf der Lunge. „Der hat einen Wirbel losgetreten als ich 12 oder 13 war.“
Gerhardus muss für mehrere Monate in eine Lungenheilanstalt, in der überwiegend Alte und Todkranke sind. Der Horror für ein Kind. „Die dachten, ich hätte TB.“ TB, das ist Tuberkulose, eine bakterielle Infektionskrankheit. Mit einem Stahlrohr machen die Ärzte eine Bronchoskopie. Das Gefühl hat Birgit Gerhardus bis heute nicht vergessen. Dann steht die Diagnose: Bronchiektasen, irreversible Ausweitungen der Bronchien. In Gießen kommt die 13-Jährige erstmals unters Messer. Es folgt eine sehr schwere Zeit. Ein Jahr lang kann Gerhardus nicht zur Schule, reist durch Deutschland von Arzt zu Arzt. Alle haben Ideen, niemand eine Lösung.
Irgendwann streikt sie. Es ist genug. Sie macht den Arzt-Marathon nicht mehr mit. Ihr Hausarzt gibt ihr ein Antibiotikum, das ihr zumindest ein bisschen hilft. Gerhardus lernt mit ihren Beschwerden zu leben und entdeckt Yoga für sich. In der Schule verpasst sie viel, schlängelt sich irgendwie durchs Abitur. „Ich war vielleicht ein Drittel der Zeit da.“ Doch sie will studieren, lernen fällt ihr leicht.
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Gemeinsam mit ihrem Mann zieht sie später nach Bonn und beginnt ein Germanistik-Studium. Doch wieder kommt es anders. Birgit Gerhardus wird ungeplant schwanger. Mit ihrem Mann entscheidet sie, dass beide es schaffen können. „Und dann hatte ich tausend Schutzengel. Das war schon immer so in meinem Leben: Immer wenn es mir richtig mies ging, kam von außen jemand.“ In diesem Fall sind es mehrere Menschen: Ein Hausarzt mit Weitblick, der die junge Frau zu genau dem richtigen Lungenfacharzt und einer Gynäkologin schickt.
Was ist Mukoviszidose überhaupt?
Mukoviszidose ist eine der häufigsten angeborenen Stoffwechselerkrankungen. Rund 8000 bis 10.000 Personen in Deutschland leben mit der Krankheit. Chronischer Husten, schwere Lungenentzündungen, Verdauungsstörungen und Untergewicht sind die wichtigsten Kennzeichen der Erkrankung.
Die Krankheit ist unheilbar. Der Verlauf ist fortschreitend und führt zum Tod. Durch intensive Forschungsarbeit ist die Lebenserwartung der Betroffenen in den vergangenen Jahren gestiegen. Rund ein Drittel stirbt jedoch vor dem 18. Lebensjahr.
Mukoviszidose wird durch eine Veränderung im CFTR-Gen verursacht. CFTR steht für „Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator“. Der Regulator ist ein Protein, das auf der Oberfläche einiger Zellen sitzt und wie ein Kanal wirkt. Durch die Mutation ist der Kanal defekt, der normalerweise dafür sorgt, dass Salz und Wasser aus der Zelle ein- und ausströmen. Es kommt zu einem Ungleichgewicht im Salz-Wasser-Haushalt der Zelle. Deshalb enthält der Schleim, der die Zellen bedeckt, bei Mukoviszidose zu wenig Wasser und wird dadurch zäh. Der Schleim verstopft lebenswichtige Organe.
Der Mukoviszidose-Verein mit Sitz in Bonn wurde 1965 gegründet und vernetzt seither Patienten, Angehörige, Ärzte, Therapeuten und Forscher. Die Regionalgruppe Siegen wurde unter anderem von Birgit Gerhardus 1991 ins Leben gerufen und steht stets mit Rat zur Seite. Erfahrungen werden ausgetauscht und Fachveranstaltungen organisiert.
Die Regionalgruppe des Mukoviszidose-Vereins trifft sich jeden zweiten Mittwoch in ungeraden Monaten um 20 Uhr im „Haus Gegenüber“, Friedrichstraße 27, in Siegen.
sDer Bonner Lungenfacharzt wird sich später als Lebensretter erweisen. Sie stellt sich ihm vor und wird untersucht. „Ich denke, er hat es sofort gewusst.“ Doch der Fachmann will der Schwangeren keine Angst machen und sagt es ihr nicht sofort. In Absprache mit der Gynäkologin überwacht er Gerhardus täglich und gibt ihr Medikamente, die auch für das Baby verträglich sind. Ihr Sohn Simon kommt innerhalb von zehn Minuten auf die Welt. „Ich habe ihn quasi rausgehustet“, witzelt Gerhardus. Der Junge ist ganz klein, sechs Wochen zu früh, aber kerngesund. Das pure Glück für das Paar.
Doch kurz darauf bekommt Gerhardus eine Lungenentzündung, sie darf das Krankenhaus nicht verlassen und ist verzweifelt. Ihr Lungenfacharzt holt sie raus, ist an ihrer Seite und bringt sie in eine Spezialklinik. Dort wird endlich der entscheidende Schweißtest gemacht. „Und es war plötzlich alles klar.“ Mukoviszidose. Alles ergibt einen Sinn. Die Verdauungsprobleme, der starke Husten, die Antriebslosigkeit. Birgit Gerhardus steht unter Schock und liest viel über die frühere Kinderkrankheit. Laut Lehrbuch liegt die Lebenserwartung damals – anders als heute – bei 19 Jahren. Nach 21 Jahren weiß die junge Mutter endlich, was wirklich mit ihr los ist. Doch ihre erste Reaktion ist Abwehr. Sie verdrängt es, kümmert sich um Simon und wird immer schwächer.
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Ihr Mann Klaus ist es, der Birgit Gerhardus schließlich überzeugt, in eine spezielle Ambulanz zu gehen. Auch Erwachsene werden in Kinderkliniken behandelt. Endlich die richtige Medizin, endlich Physiotherapie, endlich Hilfe. „Es war, als wäre ich ein zweites Mal geboren worden. Ich konnte endlich durchatmen und hatte wieder Kraft!“ Ein neues Leben beginnt. Birgit Gerhardus tritt dem Muko e.V. bei, einem Bonner Verein, in dem Betroffene sich mit Ärzten und anderen Experten austauschen. Ein Erwachsenenarbeitskreis soll eröffnet werden. Birgit Gerhardus fährt mit zu einer Tagung und trifft auf andere Erwachsene mit der Krankheit. „Einer ist mit dem Rad über die Alpen gefahren. Das war so beeindruckend und inspirierend.“ Es gibt ihr Kraft und sie beschließt, sich auf das Gute zu fokussieren. Auf alles, was sie schaffen kann. Was sie erleben will. „Das hat mir eine neue Welt aufgemacht.“
Damals ist sie die einzige, die ein Kind hat – trotz Mukoviszidose. Birgit Gerhardus entschließt, dass sie Selbsthilfearbeit machen möchte. Das Studium passt nicht mehr zu ihr. In Bonn macht sie ein Praktikum, dort wird eine psychosoziale Stelle für Patienten mit Mukoviszidose eingerichtet. „Das gab es vorher nicht in Deutschland.“ Schnell fragt der Bundesverband, ob Birgit Gerhardus nicht über ihr Praktikum hinaus bleiben möchte. Sie beginnt alles zu koordinieren, sorgt für eine bessere Vernetzung des Vereins, organisiert Seminare für Betroffene und deren Angehörige. Auch sie selbst berät junge Familien und gibt wertvolle Tipps. „Damals sind die meisten Betroffenen zwischen 20 und 30 gestorben. In den 90er Jahren war die medizinische Versorgung nicht so weit.“ Es gibt viele Fragen. Sie liefert Antworten, Trost und Hoffnung.
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Mittlerweile leben Birgit Gerhardus und ihre Familie wieder im Siegerland. Gerhardus gründet 1991 eine Regionalgruppe des Vereins, die Jahre später die Weichen dafür stellen wird, dass erwachsene Patienten in der Ruhrlandklinik Essen durch ein Zentrum für seltene Lungenerkrankungen besser versorgt werden können. Sie wirbt um Fördermittel für den Neubau, der 2020 fertig sein soll. Gerhardus ist im Vorstand der Regionalgruppe, macht viel Jugendarbeit.
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Zwischendurch bekommt die schwerkranke Frau ihr zweites gesundes Kind. Viele Eltern mit betroffenen Kindern sprechen von großer Angst. Auch Birgit Gerhardus hat immer wieder schlechte Momente, redet mit ihrem Mann, der auch Trauerbegleiter ist, über den Tod. „Ich war dreimal in der Situation, dass mir eine Lungentransplantation empfohlen wurde, aber ich wollte das nicht.“ Ihr ist klar, wie schnell es gehen kann. 2012 hat sie unerwartet einen schlimmen Absturz und kämpft um ihr Leben. „Ich wusste, ich darf nicht aufhören zu atmen, sonst war es das“, erinnert sie sich mit Tränen in den Augen. Doch sie schafft es und gibt einfach nicht auf. „Man muss verstehen, was es bedeutet zu leben und zu sterben. Jeder muss da ein Gefühl für bekommen. Die Mukoviszidose ist eine unbarmherzige Lehrerin.“
Das Wichtigste für die starke Frau: Liebe, mit sich selbst im Reinen sein und zufrieden sein mit dem, was sie kann. „Ich versuche das auch immer zu vermitteln.“ Nach wie vor berät sie mit ihrem Verein viele Betroffene und hat stets ein offenes Ohr. Sie kämpft für die Verbesserung der Versorgung. Ihre Medizin kostet mehr als 200.000 Euro im Jahr. Im Alltag hilft ihr Yoga, sogar eine Ausbildung zur Lehrerin hat sie gemacht. „Aber das Allerwichtigste ist, wie man denkt und fühlt. Sonst nützen die besten Medikamente nichts. Ich rate, Vertrauen ins Leben zu finden“, sagt Birgit Gerhardus. „Manchmal ist es eine Belastung und du willst nicht mehr. Aber ich hadere mit überhaupt gar nichts. Ich habe viel Glück gehabt und bin so vielen tollen Menschen begegnet.“
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