Dahlbruch. Gebrüder-Busch-Kreis holt Stück über die NSU-Morde auf die Hilchenbacher Bühne. Publikum ist tief berührt.

Maueröffnung, Fußballweltmeisterschaft, Steffi Graf, Flüchtlingswelle: In bewegten Bildern werden besondere Ereignisse der Nachkriegsgeschichte auf eine Projektionsfläche geworfen. Diese ist in eine riesige Kiste eingespannt. Und die steht schief. So schief wie die folgenden dramatischen Ereignisse, die das Publikum im Dahlbrucher Gebrüder-Busch-Theater in besonderer Weise berühren werden. Vor allem, weil das Stück „Aus dem Nichts“ auf Tatsachen basiert.

Die Tat

Katja Şekerci (Anna Schäfer) ist voller Verzweiflung. Die Steinstraße, in der sie mit ihrer Familie wohnt, ist komplett gesperrt. Es hat einen Nagelbombenanschlag gegeben. Was sie befürchtet, wird zur Gewissheit: Es gab viele Verletzte und zwei Tote. Und diese sind ihr aus der Türkei stammender Mann Nuri und ihr Sohn Rocco. Doch was tut die Polizei? Sie geht davon aus, der Anschlag sei ein Racheakt innerhalb des arabischen Milieus. Nur Danilo, Katjas Anwalt (Mathias Kopetzki), lenkt den Verdacht in die richtige Richtung: die Rechtsradikalen.

Der Prozess

Vor Gericht stehen das Ehepaar André und Edda Möller. Kommissarin Fischer hat sie ermittelt. Hauptbelastungszeuge ist Vater Möller: „Mein Sohn verehrt Adolf Hitler.“ Im Keller ihrer Wohnung finden sich Materialien zum Bombenbau mit den Fingerabdrücken der Angeklagten. Dass sie dennoch freigesprochen werden, hat zwei Gründe: Ein zwielichtiger Gastronom, der Konzerte mit Nazi-Bands veranstaltet, gibt den Möllers ein Alibi. Und auf den Beweisstücken befinden sich die Fingerabdrücke einer weiteren Person. Die Richterin: „Im Zweifel für den Angeklagten.“

Die Politik

Auch der anschließende Untersuchungsausschuss entlarvt den dritten Täter nicht. Der ist ein V-Mann des Verfassungsschutzes. „Wegen so einer banalen Tat soll ein V-Mann nicht enttarnt werden“, heißt es von höchster Stelle der Bundesanwaltschaft, „Staatswohl hat Vorrang.“ .

Die Inszenierung

Natürlich muss sich Miraz Bezars Bühnenfassung von „Aus dem Nichts“ mit Fatih Akins Film über die Morde der NSU vergleichen lassen. Sie ist mindestens ebenso beeindruckend, berührt aber noch tiefer. Dafür sorgt in erster Linie Anna Schäfer als Katja Şekerci, die sich mit beeindruckender Schauspielkunst zwischen Trauer, Verzweiflung, Niedergeschlagenheit und Wut, mal schreiend, mal sich wimmernd auf dem Boden wälzend die Seele aus dem Leib spielt.

Prozess erregte internationale Aufmerksamkeit

Der Münchner NSU-Prozess (2013-2018) steht, was die internationale Aufmerksamkeit angeht, in einer Reihe mit den Nürnberger Prozessen (1945/6), dem Auschwitz-Prozess (1963-1965) und den Stammheimer Prozessen gegen die RAF (1975-1977).

Das Stück „Aus dem Nichts“ greift den Nagelbombenanschlag in der Keupstraße in Köln-Mülheim auf.

Mathias Kopetzki, im Siegerland bestens durch seine Auftritte im Apollo bekannt, ist Katjas Anwalt Danilo, hin- und hergerissen zwischen seinem juristischen Auftrag und seinen persönlichen Sympathien für sie. Die übrigen Schauspieler verkörpern jeweils verschiedene Rollen, und sie tun es großartig: Constanze Aimée Feulner als Katjas Freundin, die Sachverständige des Gerichts und die Angeklagte, Maika Troscheit als Katjas Mutter, die Kommissarin Fischer und die Richterin. Christian Meyer ist sowohl schneidiger Verteidiger als auch aalglatter Staatssekretär, Martin Molitor in seiner stärksten Rolle Vater des Angeklagten und Philip Wilhelmi als Boulevard-Journalist und André Möller.

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Die letzten Bilder des Abends sind die Portraits der NSU-Toten: Acht Bürger mit türkischen Wurzeln, ein Grieche, die Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter – und als aktuellstes Opfer des Rechtsterrors der im Juni ermordete Walter Lübcke. Die beiden Toten von Halle werden sicherlich noch in diese Reihe aufgenommen werden. Das Publikum in Dahlbruch schweigt minutenlang. Dann setzt ein Orkan des Beifalls ein.

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