Alchen. Gottesdienst nach dem Unglück: Die Reden von Pfarrer Oliver Günther, Bürgermeisterin Nicole Reschke und Landrat Andreas Müller zum Nachlesen.
Mehr als 400 Menschen sind zum Gedenkgottesdienst in die Ev. Kirche nach Alchen gekommen, um der Opfer des schweren Unglücks beim Backesfest zu gedenken. Wir dokumentieren die Predigt von Pfarrer Oliver Günther sowie die Reden von Freudenbergs Bürgermeisterin Nicole Reschke und Landrat Andreas Müller anhand der Manuskripte.
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Die Predigt von Pfarrer Oliver Günther, Ev. Kirchengemeinde Oberholzklau
Unsagbares ist geschehen, liebe Angehörige, liebe unmittelbar Betroffene, liebe Alcher, verehrte Gäste, liebe Gemeinde in Alchen! Unsagbares ist geschehen. Und Unsagbares ist geleistet worden an Hilfe am Unglücksort und auch danach, an Anteilnahme, an achtsamer Solidarität, an Menschlichkeit.
Vor einigen Wochen haben wir zusammen gefeiert und gelacht. Heute weinen wir gemeinsam. Es sind Tränen des Verlustes, die wir weinen. Tränen der Schmerzen. Tränen eines tief sitzenden, unbeschreiblichen Leidens. Tränen der Lähmung. Tränen des Schocks. Tränen der Verzweiflung. Tränen absoluter Ohnmacht.
Heute weinen wir gemeinsam. Es sind viele Tränen. Das Unglück in Alchen ging um die Welt. Eine tragische Berühmtheit, von der niemand je geahnt hätte, dass sie uns einmal ereilen könnte. Aber die Erschütterung vom vergangenen Sonntag hat unsere Welt hier verändert. Wir sind andere geworden. Nichts ist mehr wie es war.
Alchen hätte überall passieren können im Siegerland. Aber es ist hier passiert, bei uns. „Es ist so still geworden in unserem Dorf“, haben mir manche gesagt. Heute weinen wir gemeinsam. Das Unsagbare ist geschehen. Und unser Dorf rückt zusammen. Menschen reichen einander die Hand, schenken einander ein Ohr, gelegentlich auch ein Wort der Ermutigung und des zaghaften Trostes.
Menschen tun das Wenige, das getan werden kann – und das Viele, das getan werden muss. Geben Nähe. Schenken Zeit und helfen. Falten die Hände und beten. Hoffen und bitten, flehen und klagen. Teilen Kräfte und Ohnmacht. Sie bleiben da, gehen hin, halten aus, weinen.
Mitten in unser Weinen hinein – eigentlich wieder unsagbar – hören wir: Es wird eine Zeit kommen, in der all dies ein Ende haben wird. In der unser Weinen und Schluchzen zur Ruhe kommen und unser Leben Frieden finden wird. Weil Gott selbst alles neu machen wird. Weil Gott selbst abwischen wird alle Tränen.
Es kommt eine Zeit, in der der jetzt manchmal so ferne Gott uns ganz nahe kommen wird. Heilsam nah. Liebevoll nah. Zärtlich nah. Er kommt, um Tränen zu trocknen, Wunden zu heilen, Seelen zu trösten. Oh, wie sehr haben wir diese Nähe im Moment nötig, Gott!
Diese Nähe bedeutet auch, dass Gott sich unserem Leiden stellt. Dann wird Gott einstehen für das, was geschehen ist und was er hat geschehen lassen. Dann wird Gott das Unsagbare erklären müssen, ja zu seiner Sachen machen müssen. Dann werden wir ihn mit unseren Fragen zur Rechenschaft ziehen dürfen. Es muss dann zu seiner Sache werden. Bis hin zur kleinsten Träne, die sich Bahn bricht.
Es wird eine Zeit kommen, in der das Unsagbare ein Ende haben wird. Heute müssen wir mit Unsagbaren leben, weiter leben. Und das geht nur, wenn wir gemeinsam weinen. Nie ist unsere Menschlichkeit stärker herausgefordert als da, wo andere weinen. Nie ist die menschliche Würde sichtbarer und verletzlicher. Wie gut ist es, wenn wir weinen können. Miteinander und füreinander. Und wie würdelos ist es, ein Geschäft mit den Tränen von Menschen zu treiben.
Heute weinen wir gemeinsam. Es ist ein notwendiges Tun auf dem Weg, mit dem Unglück umzugehen. Vor einigen Wochen haben wir zusammen gefeiert und gelacht. Heute weinen wir gemeinsam. Es sind aber auch Tränen aufrichtiger Anteilnahme. Tränen ehrlichen Mitgefühls. Trotzige Tränen gegen die Ohnmacht. Aufmüpfige Tränen gegen die lähmende Ratlosigkeit. Tränen, in denen sich die Hoffnung Bahn brechen will. Tränen, in denen der Mut mitfließt, und andere mitreißt – hin zu dem Bewusstsein: Wir sind Alchen – überall – und stehen zusammen.
Es sind tröstliche Tränen der Solidarität, die unsere Menschlichkeit unter Beweis stellen. Wir haben in den letzten Tag Raum und Zeit für beides gefunden. Tränen der Trauer und der Hoffnung. In unseren Tränen vergegenwärtigt sich Gottes Da-Sein in dieser Welt. Gott ist einer, der jetzt die Trauer teilt und den Schmerz und die Hoffnung und den Mut, das Nötige zu tun.
Gott ist ein Alcher. Hier bei uns, in unseren Tränen, ist er gegenwärtig. Überall auf der Welt, wo geweint und gelitten wird. Dafür steht sein Kreuz. Das Kreuz Jesu. Am Kreuz hat er selbst gelitten und geweint. Und gehofft. Und diese Hoffnung, so glaube ich zutiefst, hat sich durchgesetzt, die Wirklichkeit nachhaltig verändert. Die Hoffnung ist Teil unseres Lebens geworden. Hoffnung auf Leben. Sie hat sogar Einzug gehalten in unser Weinen.
Irgendwann sind keine Tränen mehr nötig. Dann wird Gott sie abwischen, weil das Alte vergangen ist und Gott einst alles neu macht. Bis es aber so weit ist. Lasst uns zusammen leben, das ganze Leben teilen, als ein Dorf wie viele und miteinander weinen. Tränen der Trauer und der Hoffnung.
Die Rede von Nicole Reschke, Bürgermeisterin der Stadt Freudenberg
Unsere Welt hielt inne und stand still an jenem Tag. Und so halten wir heute gemeinsam inne, um unserer Trauer und den vielen quälenden Fragen Raum zu geben. Wir suchen Trost und stehen Seite an Seite mit allen Menschen, die dieses Unglück miterleben mussten.
Der schreckliche Unfall hat uns alle tief getroffen. Das Geschehene macht uns ratlos. Tief berührt suchen wir Wege, mit den Ereignissen umzugehen. Ohnmächtig, wütend, verzweifelt blicken wir zurück. Die Bilder wollen nicht verblassen. Es ist erdrückend. Zu spüren, dass es Menschen gibt, hier in der Kirche und weit darüber hinaus, die mitfühlen und zuhören, die einander stützen: Das wird uns helfen, die schwere Zeit zu bewältigen.
Freudenberg wird getragen von all den vielen Ehrenamtlichen, die unermüdlich und mit großer Leidenschaft mit vielen Aktionen unsere Gemeinschaft stärken. Unsere Ortschaften sind geprägt von aktiven Vereinen und hilfsbereiten Mitarbeitenden. Dieser Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist unermesslich. Das Jubiläumsjahr in Alchen war von großer Freude, Aufbruchsstimmung, Zukunftsplänen durchzogen. In dieser Kirche haben wir ein Festwochenende eingeläutet, das von Alchern für Alcher und ihre Gäste liebevoll vorbereitet und gestaltet worden ist. Damals habe ich gesagt: Zukunft geht nur gemeinsam.
Und plötzlich stand unsere Welt still. Unsere Gedanken sind bei der Familie der Verstorbenen, den Verletzten sowie den Angehörigen – die äußerlichen Wunden mögen heilen, die inneren uns immer begleiten. Und so nehmen wir auch die Mitglieder und Organisatoren des Heimatvereins in unsere Mitte und sprechen Ihnen Mut und Zuversicht zu. Wir sind bei Ihnen.
Ich verspüre eine tiefe Trauer. Ich verspüre aber auch eine tiefe Dankbarkeit, dass in unserer Stadt, in unserem Kreis ehrenamtliche und hauptamtliche Einsatzkräfte Dienst tun, den Mitmenschen in größten Notlagen zur Hilfe eilen. Wir durften erleben, dass Ablaufpläne für die Notfallversorgung vieler Verletzter greifen und Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei schnell und professionell, zugleich einfühlsam handeln. Im Namen aller Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt sage ich allen Ersthelfern, Rettungskräften, Feuerwehrkameradinnen und -kameraden, Polizisten und Seelsorgern meinen herzlichen Dank. Danke, dass Sie für uns da sind!
Viele von ihnen sind über ihre eigenen psychischen und physischen Grenzen gegangen. Und nun ist es wichtig, dass andere für Sie da sind. Seelsorger und Psychologen geben Unterstützung in der Aufarbeitung des Unfalls. Pastor Oliver Günther und die Kirchengemeinde haben sich unmittelbar nach dem Unglück aufgemacht, um den Menschen ein wertvoller Gesprächspartner, eine Stütze zu sein. Sie haben die Kirche geöffnet, bieten Raum für Trauer und Verarbeitung, hören zu und suchen gemeinsam mit uns allen nach Antworten. Ich empfinde es als besonders wertvoll, dass wir hier eine Anlaufstation haben, einen Ort, an dem wir Fragen stellen dürfen und Halt erfahren.
Über die Stadtgrenzen hinaus haben mich zahlreiche Nachrichten erreicht von Menschen, die uns in besonderer Weise verbunden sind und uns Kraft wünschen, insbesondere aus der ungarischen Partnerstadt Mór, die mit einer großen Delegation den Feierlichkeiten im Sommer beigewohnt haben und Freundschaften zu den Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Ortes pflegen.
Lassen Sie uns alle zusammenstehen, lassen Sie uns zusammenrücken, um das Unbegreifliche auszuhalten, lassen Sie uns gegenseitig stützen, und nehmen wir uns Zeit für Gespräche. Lassen Sie uns Wege finden, unsere Gemeinschaft in den Vereinen und in den Ortschaften über diese Tage hinaus aufrecht zu halten.
Während der Feierlichkeiten „50 Jahre Eingemeindung Freudenberg“ haben wir ein starkes Band geknüpft, waren in Freude miteinander verbunden. Die Ortschaften sind noch näher zusammengerückt. Diese Verbindung wird uns in dieser schweren Zeit Halt geben und tragen. Denn auch heute gilt: Zukunft geht nur gemeinsam.
Die Rede von Andreas Müller, Landrat des Kreises Segen-Wittgenstein
Gerade einmal zwei Monate ist es her, dass wir hier in der Kirche zusammengekommen sind, um mit dem Festkommers in die Feierlichkeiten zum Dorfjubiläum „675 Jahre Alchen“ zu starten. Dass wir nach so kurzer Zeit wieder hier zusammenkommen würden, um miteinander zu trauern, uns gegenseitig Trost zuzusprechen und uns zu ermutigen, war in diesem Moment unvorstellbar. Das Unglück vom vergangenen Sonntag hat uns alle aus heiterem Himmel getroffen. Völlig unvorbereitet. Denn wer rechnet schon damit, dass man auf ein Backesfest geht und nicht wieder nach Hause kommt? Oder schwer verletzt wird?
Niemand. Damit kann man auch nicht rechnen. Natürlich wissen wir alle, dass jederzeit ein Unglück passieren kann – und sei es so etwas beinah Alltägliches wie ein Autounfall. Aber sich tatsächlich emotional darauf vorbereiten, dass so etwas geschieht, das kann man nicht. Und so hat uns das schwere Unglück auch alle wie aus heiterem Himmel getroffen. Der Schock saß tief – und er tut es immer noch.
Es gibt wenig, das Ihren Schmerz lindern kann, die Sie einen geliebten Menschen verloren haben – oder Ihnen die Angst nehmen kann, die Sie um die Gesundheit oder das Leben eines Verletzten fürchten. Niemand kann die Lücke schließen, kann das heilen, was geschehen ist.
Was wir können, ist füreinander da sein: Mitfühlen, zuhören, in den Arm nehmen, miteinander trauern und weinen, Zeit füreinander haben. Alchen ist eine starke Gemeinschaft. Das haben wir beim Festkommers immer wieder betont. Und ich denke, in den letzten Tagen ist das sichtbar geworden. Auch an den vergangenen Abend hier in der Kirche und heute hier bei diesem Gottesdienst.
Vielleicht hilft Ihnen diese starke Gemeinschaft ein wenig, über die nächsten schweren Tage hinwegzukommen. Ich möchte Ihnen versichern: Sie sind in Ihrer Trauer nicht allein! Unzählige Menschen in Siegen-Wittgenstein trauern mit Ihnen und hoffen und beten für die Verletzten und Sie, die Angehörigen.
Liebe Gottesdienstbesucher, mein Dank gilt an dieser Stelle auch noch einmal allen, die am Sonntag als Helfer hier vor Ort im Einsatz waren: Ersthelfer, Feuerwehrleute, Rettungsdienst, Hubschrauberbesatzungen – auch für Frauen und Männer, die schon lange im Dienst sind, war das kein leichter Einsatz. Sie haben Übermenschliches geleistet! Vielen Dank dafür!
Und mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kliniken, den Ärztinnen und Ärzten, den Pflegerinnen und Pflegern. Und ich bedanke mich auch ganz, ganz herzlich bei denen, die in den letzten Tagen als Seelsorger und Unterstützer für die Angehörigen da waren. Ich denke, diese Unterstützung wird auch in den nächsten Tagen noch gebraucht und dankend angenommen werden.
Wenn wir heute hier auseinander gehen, sind die Wunden noch nicht geheilt, die Schmerzen bleiben, das Bangen um die Angehörigen geht weiter. Und so wünsche ich Ihnen, dass Sie sich weiter gegenseitig Stärken und füreinander da sind, wie Sie das in den vergangenen Tagen waren.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe am Anfang schon einmal gesagt: solch ein Unglück macht deutlich, wo die Grenzen unseres Mensch-seins liegen. Und deshalb möchte ich meine Worte auch mit einem Gedanken beenden, angelehnt an den ersten Vers des Hebräer-Briefs: „Glaube ist Vertrauen, dass unsere Hoffnungen sich erfüllen; und Glaube ist die Zuversicht, dass etwas existiert, was wir noch nicht sehen. Dieser Glaube trägt uns.“ Dieses Vertrauen, diese Hoffnung und diese Zuversicht wünsche ich Ihnen - auf Ihrem Weg durch die nächsten Tage, Wochen und Monate.
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