Siegen. Ilan Reches besucht Siegen. Hier haben seine Großeltern gewohnt, bevor sie 1942 von den Nazis deportiert und ermordet wurden.
„It’s a big surprise for me.” Ilan Reches ist gerührt, als er und seine Frau Samera von Traute Fries, einem der unermüdlichen Motoren des Aktiven Museums Siegen, durch die Stadt geführt werden. Denn Siegen ist die Heimat seiner Großeltern, bis sie von den Nazis deportiert und ermordet werden.
Lazar Reches und seine Frau Lisa hatten am Marburger Tor 4 ein Warenhaus. Sie nannten es „Kaufhaus zur billigen Quelle“. Sie boten dort Sonderposten aller Art zu günstigen Preisen an. Vergleichbar mit 1-Euro-Läden der Gegenwart. Die Geschäfte gingen eher schlecht. Das zeigen die geringen Steuerbeiträge, die das Paar an die Synagogengemeinde entrichten musste. Der Laden am Marburger Tor war eines der zahlreichen Kaufhäuser in der Siegener Oberstadt, die sich im Besitz jüdischer Familien befanden, bis diese von den Nazis „arisiert“, das heißt den damaligen Inhabern abgenommen und „reinrassigen Deutschen“ gegeben wurden.
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Prägende Orte
Lazar Reches galt als sehr frommer Jude, der sich streng an die religiösen Gesetze hielt. Kein Wunder, dass er über Jahre im Vorstand der Synagogengemeinde mitarbeitete. Hugo Herrmann, der letzte Überlebende dieser Gemeinde und nach seinem Tod 1993 auf dem jüdischen Teil des Hermelsbacher Friedhofs beigesetzt, wusste immer wieder über die Rolle von Lazar Reches bei der Reichspogromnacht am 9. und 10. November 1938 zu berichten. Reches war, wie andere seiner jüdischen Mitbürger, im Keller des Siegener Rathauses in Polizeiarrest, als er vom Brand der Synagoge hörte. Er sang mit lauter Stimme ein hebräisches Lied, das die anderen Inhaftierten mitsummten.
Termine im September
Das Aktive Museum Südwestfalen, Obergraben 10, bietet am Tag des offenen Denkmals – Sonntag, 8. September – von 14 bis 18 Uhr jeweils zur vollen Stunde kostenlose Führungen an.
Die Werke deutscher Exil-Autorinnen stehen am Donnerstag, 19. September, ab 18.30 Uhr im Stadtarchiv im Krönchen-Center im Mittelpunkt: „Der ,weibliche’ Blick auf das ,Dritte Reich’“.
Vier Jahre später gehörte das Ehepaar Reches zu den ersten Opfern der Deportation in die Todeslager der Nazis. Hugo Herrmanns Vater war der letzte Vorsitzende der Siegener Synagoge. Auf der Flucht vor den Nazis ertrank er vor Haifa. Er war einer von 1000 Juden auf dem Schiff „Patria“, dem die Hafeneinfahrt verboten wurde. Als auf der Patria ein Feuer ausbrach, konnten er und mehr als 200 andere Flüchtlinge sich nicht mehr retten. Geschichte scheint sich zu wiederholen.
Und nun besucht Ilan Reches einige der Orte, die das Leben seiner Großeltern prägten. Die Alte Poststraße, in der Stolpersteine an die in Auschwitz ermordeten Fanny und Saul Hausmann erinnern. Sie hatten ein Schuhgeschäft und waren mit dem Ehepaar Reches verwandt. Vor allem aber das Haus Nummer 4 am Marburger Tor. „Here was the shop“, erklärt Traute Fries und zeigt Ilan ein Foto des Kaufhauses seiner Großeltern. Später führt sie ihn und seine Frau Samera noch zum Rathaus und dem ehemaligen Haftkeller.
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Einblick in Schicksale
Letzte Station ist das Aktive Museum am Obergraben, wo bis zum 10. November 1938 die Siegener Synagoge stand. Ilan und Samera Reches nehmen sich viel Zeit, um dort die vielen Dokumente über die Geschichte Siegerländer Juden auf sich wirken zu lassen.
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Sie selbst werden in einigen Tagen wieder in Haifa sein, wo Ilan Reches 1957 geboren wurde und als Architekt arbeitet. Seine Frau hat spanische Wurzeln und ist Psychologin. Beide leben gerne in Haifa mit seinen Hügeln, das sie sehr an Neapel erinnert. Und in Zukunft auch an das ebenso hügelige Siegen mit seiner waldreichen Umgebung und den Menschen, die sich mit der nicht immer ruhmreichen Vergangenheit der Stadt auseinandersetzen.
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