Siegen. . Peter-Thomas Stuberg spricht im Interview zum Reformationstag über Luthers Motive, sein Menschenbild und seinen Einfluss bis in die Gegenwart.

  • Interview mit Superintendent Peter-Thomas Stuberg zum Reformationstag
  • „Wir leben von und in den Nachwirkungen der Reformation relativ unbewusst und sehr selbstverständlich.“
  • Luthers Einfluss auf das moderne Menschenbild und unsere heutige Gesellschaft

Martin Luther und der Reformation verdankt Peter-Thomas Stuberg seinen Job. Nicht nur von Berufs wegen hält der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Siegen den 1483 geborenen Theologen und sein Lebenswerk für herausragend. Im Interview mit Florian Adam spricht Stuberg zum Reformationstag über Luthers Motive, sein Menschenbild und seinen Einfluss bis in die Gegenwart.

Vor 500 Jahren steht ein einzelner Mann in Wittenberg auf, nagelt 95 Thesen an eine Tür und legt sich mit der übermächtigen Kirche an. Wie kommt eine Mensch auf so eine Idee?

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Stuberg: Martin Luther hat eine Praxis der damaligen katholischen Kirche als unzulänglich empfunden – um es vorsichtig auszudrücken. Er stellte sich dagegen, über den Ablasshandel mit den Sünden der Menschen Geschäfte zu machen und Gott dafür zu instrumentalisieren.

Mit seinen Thesen wollte er eine Disputation anstoßen, einen Diskurs anregen. Das hat er als tiefe Notwendigkeit empfunden, er folgte seinem Gewissen. Er hat nicht geahnt, dass er damit einen Stein ins Wasser wirft, der europaweit Wellen schlagen würde.

Um Spaltung ging es also zuerst nicht?

Nein. Martin Luther wollte eine Reform der katholischen Kirche erreichen.

Das Prinzip des Ablasshandels klingt aus heutiger Sicht absurd. Wieso sollte eine Wesenheit wie Gott sich durch Geld beeinflussen lassen?

Dazu muss man das Mittelalter verstehen. Die Menschen hatten einen permanenten Jenseitsbezug. Im Leben und nach dem Tod vor Gott bestehen zu können, das war ein permanenter Gedanke. Und wenn man merkt, dass man das nicht hinkriegt – dann ist die Idee, dass man es einfacher haben kann, indem man sich von Sünden freikauft, attraktiv.

... mit den Qualen von Fegefeuer und Hölle vor Augen?

Die Angst vor einem vernichtenden Jenseits war weit verbreitet.

Luther kannte diese Angst?

Er war jedenfalls sehr gewissenhaft in dem Gedanken: ,Wie können wir uns Gott gewogen machen? Wie bekommen wir einen gnädigen Gott, der uns seine Nähe schenkt?’ Aus seinem eigenen Empfinden heraus kam Luther aber zu der Überzeugung, dass er als Mensch Gott gar nicht genügen kann. Und seine Entdeckung war: Er musste es auch gar nicht.

Ach nein?

Luther hat das durch Studien des Römerbriefs entdeckt, er hat es gefunden wie einen Schlüssel zu einem neuen Verständnis: Die Erlösung hat Gott uns schon gegeben, durch den Tod Jesu. Das einzige, was ich als Mensch machen kann: Gott vertrauen, vertrauen darauf, dass ich ihm in seinen Augen genüge. Gottes Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit, die mir gegeben wird – und nicht die, für die ich erst etwas tun muss.

Könnte ich dann nicht einfach alles tun, was ich will – ohne Rücksicht auf Verluste?

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Für Martin Luther war Gott kein domestiziertes Schoßhündchen, das außer Liebe nichts kann. Er bezog sich sehr auf das erste Gebot: Wir sollen Gott fürchten – nicht im Sinne von ,Angst’, sondern von ,Ehrfurcht’ –, ihn lieben und ihm vertrauen. Ich verstehe die evangelische Kernbotschaft so, dass Gottes Liebe so überwältigend ist, dass ich ihr aus einem inneren Gefühl und aus Dankbarkeit zu entsprechen versuche.

Diese Liebe tilgt Dinge, die vorher als Verfehlungen galten und für die im Jenseits Strafen drohten. Dieses Bild von einem gnädigen Gott bedeutet Freiheit. Das heißt aber umgekehrt nicht, dass ich auf der faulen Haut liegen könnte. Humanitäres Handeln – wenn wir beispielsweise etwas spenden – ist uns wichtig, weil wir wissen, dass die Menschen, denen wir helfen, ebenso Gottes Geschöpfe sind, auch wenn wir es vielleicht nicht so fromm sagen. Aber wir wissen heute, dass Leben an sich einen Wert hat.

Welche Bedeutung hat Luthers Werk für die Menschen heute? Religion spielt für viele Leute keine oder fast keine Rolle mehr.

Wir leben von und in den Nachwirkungen der Reformation relativ unbewusst und sehr selbstverständlich. Es gibt unterschiedliche Auffassungen, ob die Reformation die Moderne erst ermöglicht hat. Auf jeden Fall hat sie die Entwicklung begünstigt. Die Berufs- und Alltagswelt der Menschen hat zum Beispiel eine Aufwertung erfahren.

500 Jahre Reformation - Das muss man jetzt wissen

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    Luther sagte, dass auch jeder Knecht, jede Magd mit ihrem Dienst Gott dienen können – und nicht nur ein kleiner, ausgewählter Kreis von Menschen. Die Reformation hatte außerdem Auswirkungen auf das Bildungssystem und trug zur Demokratisierung bei. Nicht nur, weil Gemeinden ihre Pfarrer wählten, statt sie von Bischöfen einsetzen lassen zu müssen. Sondern auch, weil wegen Luthers Bibelübersetzung Aussagen überprüfbar wurden. Dabei spielt natürlich die Erfindung des Buchdrucks eine Rolle. Die Bibel wurde ein Bestseller.

    Zur Würdigung des 500. Jahrestags ist der 31. Oktober einmalig bundesweit ein Feiertag. Auch für nicht religiöse Menschen ein Anlass, sich zu besinnen?

    Ich glaube, dass wir im Fahrwasser der Reformation ein Menschenbild praktizieren, dass zwischen der Person und ihrem Wirken unterscheidet; weil wir davon ausgehen, dass es eine Würde des Menschen gibt, ohne dass man dafür erst etwas tun muss. Das ist ein zutiefst reformierter Grundsatz, und er wirkt bis in unsere Gesetzgebung und Rechtsprechung hinein.

    Die Botschaft ist also: Ich bin als Mensch – sofern ich nicht aktiv irgendwelche eindeutigen Verfehlungen begehe – zunächst einmal per se in Ordnung, wie ich bin?

    Ja. Aber trotzdem herrscht auch heute ein Bild von Vollständigkeit, Perfektion und Leistung, dem viele entsprechen zu müssen meinen. Heute treibt Menschen dabei eher die Frage um: ,Finde ich eine gnädige, gewogene Öffentlichkeit?’ In gewisser Weise muss ich mich ständig für irgendetwas rechtfertigen – und sei’s für meine Klamotten.

    Genau da greift der Kern der Reformation, genau solche Muster hat sie hinterfragt. Denken Sie an die sozialen Medien, an Like und Dislike: Da kann man sich schon fragen ,Ist das das Forum, vor dem ich mich beweisen muss?’ Und da kann ich sagen: ,In Jesu Namen: Nein.’

    Eine Sache, die sich in den vergangenen Jahrhunderten eindeutig verändert hat, ist das Verhältnis von evangelischer und katholischer Kirche.

    Das ist mittlerweile von großem gegenseitigen Respekt geprägt. Wir sind in den Grundlagen unseres Glaubens sehr dicht beieinander: Christus ist der Herr unserer Kirche. Damit können wir das, was uns unterscheidet oder trennt, sehr viel gelassener nehmen.

    Und die Herausforderungen verbinden uns ebenfalls: Wir müssen Glauben auch für die Menschen erklären, die ihn nicht haben – oder nicht leben wollen.

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