Müsen. Der Müsener Autor war früher Lehrer und Rektor. Heute schreibt er Romanbiografien — über Menschen, deren Leben an Wendepunkte kam.

Es sind 30. Dreißig Biografien, Kinderbücher und Versdichtungen, die Lothar von Seltmann mittlerweile verfasst hat. Die Romanbiografie ist die Form, die der 73-Jährige gewählt hat, um das Leben von Menschen zu erzählen: bekannten und unbekannten, Zeitgenossen und historischen Persönlichkeiten. Von Harry, der auf der Straße lebt, bis zu Henri Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes. „Ich habe ein Stück Welt zu sehen gekriegt“, sagt Lothar von Seltmann.

Das meint er wörtlich, denn für seine Recherchen ist er bis Kanada oder, für sein jüngstes Buch, bis nach Israel gereist. Und im übertragenen Sinne. Denn manches von der Welt, aus der der Autor Lebensgeschichten zu Tage fördert, „bleibt ein Stück fremd“. Was für den letzten Roman besonders gilt. „Helene Weinmann“ hat er ihn genannt — ohne Zusatz, nur mit der Unterzeile „Ein weites Herz für Gottes Volk“. Ganz anders als sonst.

1991: Wendepunkt an einem Wintertag

Es sind 25. Fünfundzwanzig Jahre seit jenem Wintertag 1991, an dem Lothar von Seltmann so schwer verunglückte, dass er seinen Beruf als Lehrer und Rektor der Dahlbrucher Hauptschule nicht mehr ausüben konnte. Von Seltmann, zu Hause in der evangelikalen Bewegung, macht seitdem von einem anderen Talent Gebrauch: Er schreibt Geschichten von Menschen und den Wendepunkten in ihren Leben auf, Menschen, für die Gott wichtig ist – oder wird. Meistens über Frauen. Weil auch christliche Verleger rechnen können und ihr Publikum kennen. Und weil ihr Autor in Müsen einen durchaus pragmatischen Zugang zu den Themen hat, die er sich keineswegs nur selbst aussucht: Die evangelischen Gemeinschaften kennen und schätzen Lothar von Seltmann, der ihre Geschichten auf den Punkt zu bringen weiß.

1955: Ankunft in Maisenbach

Helene Weinmann? Als sie 1955 erstmals zur Erholung in den Schwarzwald kam, nach Maisenbach bei Bad Liebenzell, hieß sie Helen Wyman, war 77 Jahre alt und hatte den Plan, die Menschen vom christlichen Hilfswerk für ein Projekt in Israel zu gewinnen: ein Erholungsheim für Überlebende des Holocaust. Lothar von Seltmann, seit 1998 immer wieder einmal zu Gast im Maisenbacher „Haus Bethel“, wird gebeten, ein Buch über die 80-jährige Geschichte dieses Werks im Schwarzwald schreiben. Der Autor interessiert sich mehr für die Frau, auf deren Porträt er stößt.

„Ich bin für neue Dinge immer offen und empfänglich“, sagt Lothar von Seltmann. Der Lehrer lernt — und gibt gern zu, dass er nur so viel durchdringt, wie er benötigt, um die Geschichte von Helene Weinmann aufzuschreiben: Geboren im schlesischen Oppeln, von ihrer jüdischen Familie verstoßen wie zuvor schon die ältere Schwester, die beide Christinnen werden, Hutmacherin in Hamburg, Krankenschwester in Westpreußen und schließlich Missionarin in Odessa. Wie sie von da nach England kommt, wie sie den Holocaust erlebt? „Da gibt es ein Loch“, sagt von Seltmann — keine Aufzeichnungen, kaum Dokumente. „Zedakah“ (das ist das hebräische Wort für Wohltätigkeit), das von ihr in Deutschland initiierte Hilfswerk, wächst. Heute gibt es dort nicht nur das große Gästehaus, sondern auch ein Pflegeheim; in beide Einrichtungen entsendet Zedakah deutsche Freiwillige, die dort für ein Jahr oder zwei Dienst leisten. Eine Aufgabe, die kein Ende finden wird, glaubt Lothar von Seltmann: Die Nachkommen der Überlebenden, sagt er, „haben das Trauma geerbt.“ Das Haus in Maisenbach wird heute übrigens von Paul-Gerhard Mosch, dem früheren Hilchenbacher Optiker, und seiner Frau Luise geleitet.

2016: Schabbat und Weihnachten

Helene Weinmann, die 1959 gestorben ist, würde heute den Schabbat und morgen Weihnachten feiern. Eine messianische Jüdin, deren missionarisch ausgerichtete Glaubensgemeinschaft von den großen christlichen Kirchen in Deutschland eher distanziert betrachtet wird.

Zwischen allen Stühlen? „Ich stecke nicht in ihrer Haut“, sagt Lothar von Seltmann, den die Beschäftigung mit Helene Weinmann auch zurück zu seiner eigenen Geschichte gebracht hat: nach Krakau, wo er 1943 geboren wurde und wo heute Sohn Uwe mit seiner Familie lebt.

Neue Pläne? „Im Augenblick atme ich mal ein bisschen durch.“ Gerade war Miluscha zu einer Lesung zu Gast, die inzwischen 88-jährige Heldin einer seiner ersten Biografien. Oben auf dem Müsener Friedhof hat übrigens Harry sein Grab.