Siegen. . Nach dem Familiendrama in Siegen rekonstruieren die Ermittler den Tatabend. Der Vater (42) soll seiner Tochter den Kontakt zur Oma verboten haben. Nachbarn sind entsetzt und schockiert.
Das Dreirad auf der Terrasse ist eingeschneit. Jemand hat die Rollläden herunter gezogen, aus der Zeitungsröhre quillen die Gratisblättchen. Das Schieferhäuschen in der Straße "Zum Wildgehege" wirkt verwaist. Nur das alberne Gelächter von ein paar Schülerinnen hallt herüber, die an der Bushaltestelle hinter dem Haus stehen.
Das Lachen verstummt, als sie hören, dass in diesem Haus ein 13-jähriges Mädchen angeschossen wurde. Vermutlich von ihrem Vater. „Eeeeecht?“, fragt eine Schülerin mit weit aufgerissenen Augen. „Schlimm.“
Das junge Opfer schwebt nicht mehr in Lebensgefahr. Das ist die gute Nachricht, die die Polizei am Mittwoch herausgibt. Es war noch in der Nacht operiert worden.
„Wie kommt er nur an die Waffe?“
Der 42-jährige mutmaßliche Schütze wollte offenbar verhindern, dass das Mädchen weiter Kontakt zu seinen Schwiegereltern pflegt. Weshalb er diese Beziehung unterbinden wollte, darüber hüllen sich die Ermittler noch in Schweigen. Dass die Tat innerhalb der Familie in den Bereich der so genannten „Ehrenmorde“ fällt, schloss Polizeisprecher Georg Baum aber aus: „Der Konflikt ist ausschließlich innerhalb der Familie zu suchen.“
Der Muezzin der nahen Geisweider Selimiy-Moschee erhebt seine Stimme zum Gebet. Autos rumpeln über den löchrigen Asphalt. Alles wie immer, und doch wird nichts mehr so sein wie zuvor. So empfindet es auch eine junge Mutter, die mit ihrer Familie in einem Haus gegenüber wohnt. Mittags habe sie noch mit dem Vater, dem mutmaßlichen Schützen, gesprochen. Sie holten zusammen die Kleinen vom Kindergarten ab. Das Verhältnis zu der Familie sei immer in Ordnung gewesen. Die Kinder feierten zusammen Geburtstag. Niemals hätte sie gedacht, dass kaum 15 Meter weiter von ihrem Wohnzimmer so etwas Schlimmes passieren könnte. „Ich bin schockiert“, sagt sie immer wieder. Sie leidet sichtlich mit der Nachbarsfamilie. „Wer schießt auf sein eigenes Blut?“, fragt sie, die hellgrünen Augen voller Tränen. „Wie kommt er nur an die Waffe?“ Laut WDR hatte sich der 42-Jährige einen Revolver illegal besorgt. Die Polizei will diese Information gestern noch nicht bestätigen.
Vater verlor wohl im Streit die Kontrolle
Die Ermittler rekonstruieren den Abend. Es gibt zwei Tatorte. Nummer eins liegt in Weidenau, Nummer zwei in Achenbach. Der mutmaßliche Täter verliert zunächst in dem Weidenauer Haus, in dem er mit seiner Frau und vier Kindern lebt, im Streit die Kontrolle. Die Situation eskaliert in einem Konflikt um den Kontakt seiner Tochter mit seinen Schwiegereltern. Dann greift der er zur Pistole und schießt auf seine Tochter.
Tatverdächtiger sitzt in U-Haft
Der Tatverdächtige wurde am Mittwoch dem Haftrichter vorgeführt, der den 42-Jährigen wegen versuchten Totschlags in Untersuchungshaft schickte.
Er soll sich in den Vernehmungen zu den Taten geäußert haben. Details wollte die Staatsanwaltschaft wegen der laufenden Ermittlung gestern nicht nennen.
Danach setzt er sich ins Auto und fährt acht Kilometer weiter zum Haus seiner Schwiegereltern im Stadtteil Achenbach. Dort schießt er auf die 57-jährige Schwiegermutter und seinen 22-jährigen Schwager. Die Polizei findet den Familienvater schließlich bei Verwandten in Weidenau. Er lässt sich widerstandslos festnehmen. Drei andere Männer, die am Dienstagabend ebenfalls festgenommen werden, lässt die Polizei noch in der Nacht wieder frei. „Sie haben nachweislich nichts mit der Tat zu tun“, so der Polizeisprecher Baum.
Normalerweise ist es in der Engsbach, dem zweiten Tatort, ruhig. Die Gegend ist bürgerlich, die Häuser groß und idyllisch nah am Wald gelegen. Das größte Ärgernis sind Rehe, die im Sommer die Rosen abknabbern. Dass hier jemand auf Menschen schießen würde, kann keiner fassen. Drei Knalle hört ein Nachbar am Dienstagabend. Es sind Schüsse. „Ich dachte an Silvesterböller“, sagt er. Vor seinem Haus spielt sich das Familiendrama ab. Irgendwann löscht jemand das Licht im Haus gegenüber. Ruhe. Bis die Krankenwagen kommen. Und die Polizei. Und die Mordkommission mit den Lieferwagen.
Beide Tatorte wirken jetzt wie verwaist
Am Mittwoch, dem Tag danach, wirkt auch dieser zweite Tatort verwaist. Die Rollläden sind runtergezogen. Der Mann, der die Schüsse gehört hat, fühlt mit seinen Nachbarn. Wenn das alles vorbei sei, werde er zu ihnen gehen und sagen, wie leid es ihm tue: „Das sind doch prima Leute.“