Meschede/Freienohl. Sie waren Kinder im Zweiten Weltkrieg. Doch mit den Bildern aus der Ukraine werden bei Mescheder Senioren viele Erinnerungen wieder wach.
„Irgendwer muss sich aufraffen und Putin aufhalten - der hört sonst nicht auf. Es ist grauselig!“ Ursula Arens ist 84 Jahre alt und 1946 als Achtjährige aus Schlesien geflohen. Wie bei vielen Meschedern ihrer Generation kommen durch den Ukraine-Krieg die alten Bilder wieder hoch. „Sie waren ja nie ganz weg“, sagt die Meschederin, „aber jetzt kommen die neuen noch oben drauf“.
Ursula Arens, 84
Die Familie lebte In Waldenburg, der Vater galt als vermisst. „Damals haben wir ja noch gehofft, dass er wiederkommt. Sonst hätte meine Mutter doch gar nicht weitermachen können.“ Mit fünf Kindern, zwischen acht und anderthalb Jahren alt, floh sie, nachdem die Russen angekündigt hatten, man werde in zwei Stunden wiederkommen „und alle holen“. „Ich weiß nicht wie meine Mutter das geschafft hat.“
In Güterwaggons ging es Richtung Westdeutschland. „Gott sei Dank im Sommer und nicht bei dieser erbärmlichen Kälte, die jetzt auch in der Ukraine herrscht“, erinnert sich die Seniorin. Als Kind erschien es ihr eher wie ein Abenteuer. Wie im Ukraine-Krieg jetzt seien es damals vor allem Frauen und Kinder gewesen, die auf der Flucht waren. „Die Männer waren ja im Krieg geblieben oder in Gefangenschaft.“
Über Siegen ging es nach Meschede, „da blieben wir eine Woche in der Schützenhalle“ und dann im Lkw weiter nach Wenholthausen. Zwei Frauen und elf Kinder wurden bei einer Familie einquartiert. Die Seniorin muss schlucken, als sie daran denkt: „Und dann waren wir auch noch evangelisch - das hat man uns auch spüren lassen.“ Am Tag nach Putins Einmarsch sei sie direkt zum Fernseher. „Da waren bei mir nur noch Tränen. Dass einen das noch mal so erwischt, hätte ich nicht gedacht.“
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Klaus Hengesbach, 85
Eigentlich stammt die Familie Hengesbach aus Eversberg. Doch der Vater war nach Berlin gegangen, um dort zu arbeiten, hatte eine Frau gefunden, sie stammte aus Ostpreußen, und blieb. Um den Luftangriffen zu entgehen, wurden damals ganze Großstadt-Klassen in die Kinderlandverschickung gegeben, berichtet Klaus Hengesbach. Erst ging es 1941 nach Ostpreußen und dann - als die Russen näher rückten - ins Erzgebirge.
Seine Eltern sah er fast vier Jahre nicht. Einzige Bezugsperson war der Klassenlehrer. Klaus Hengesbach bewegen deshalb die Bilder der vielen Kinder, die nun an der Hand ihrer Mütter über die Grenze kommen und eine Unterkunft suchen, besonders. Denn auch er stand mit seinem Bruder Dietmar an einem nassen Herbstabend im Jahr 1942 auf dem Marktplatz zur Aufteilung in Gastfamilien im erzgebirgischen Seiffen.
Dass die zwei überhaupt zusammen verschickt worden waren, lag daran, dass sie, weil sie altersmäßig nur wenige Monate auseinander waren, die gleiche Klasse besuchten. Gemeinsam hatten sie die lange und gefährlichen Zugfahrt von Ostpreußen ins Erzgebirge geschafft. „Manchmal musste der Zug wegen der Tieffliegerangriffe halten und wir Kinder warfen uns in den Graben neben den Gleisen.“ Dietmar mit sieben Jahren (Jahrgang 1935) und Klaus mit sechs (Jahrgang 1936) galten als Zwillinge. „Wir klammerten uns aneinander und wollten zusammenbleiben.“ Doch zwei Jungs waren offenbar schwer vermittelbar.
„Nachdem alle Kinder einzeln verteilt worden waren, merkten wir, dass niemand die Zwillinge haben wollte, bis endlich eine kleine ältere Frau – wir nannten sie später immer Oma Zeidler, die erlösenden Worte sagte: ,Ich nehme die beiden Buben’. Klaus Hengesbach ist ihr im Rückblick immer noch dankbar: „Für uns begann damit eine relativ behütete und geregelte Zeit.“
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Elmar Krämer, 84
Bombeneinschläge und Tote - auch bei Elmar Krämer aus Meschede wecken die Nachrichten über den Ukraine-Krieg alte, zum Teil verdrängte Erinnerungen. „Am 19. Februar feiere ich meinen zweiten Geburtstag“, sagt er. Am Tag des schweren Angriffs auf Meschede im Jahr 1945 wurde der damals fast Achtjährige auf dem Außengelände des Blindenheims in der Nördeltstraße neben einem Bombentrichter verschüttet.
„Wir hatten beim Fliegeralarm das Haus verlassen, weil wir uns nicht sicher fühlten. Doch dann fielen die Bomben in unmittelbarer Nähe. Meine Mutter hatte kurz vor dem Einschlag noch eine Decke über uns geworfen. Ich steckte bis zum Hals in der Erde“, erinnert er sich. „Meine Schwester und meine Mutter haben mich ausgegraben. Neben mir, vielleicht drei Meter entfernt lagen drei tote Nachbarn.“
Als die Familie zurück ins Haus kam, war ein Teil des Dachs weg, viele Fenster waren geborsten und im Hausflur zündelte eine Brandbombe. „Zehn Minuten später - und unser Haus hätte auch noch in Flammen gestanden.“ Am 20. Februar 1945 kam mein Onkel mit dem Fahrrad von Bigge und hat uns dann über die Höhen und Schleichwege zu Fuß nach Ostwig gebracht – dort blieben wird bis Dezember 1945.
Wie auch jetzt in der Ukraine war es Sache der Frauen, die Familie durchzubringen. Elmar Krämers Vater war Soldat. „Im Oktober 1945 kam er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, total schmal, kahlköpfig, an den Füßen hatte er keine Schuhe nur Lappen, die mit Draht festgebunden waren.“ Ein schlimmer Anblick für das Kind. „All das kommt mir jetzt wieder ins Gedächtnis.“
Werner Wagenknecht, 90
Nassgeschwitzt wird Werner Wagenknecht in diesen Tagen wach. „Ich habe geträumt, wie meine Mutter, mein achtjähriger Bruder und ich damals nach Remscheid zurückkamen. Überall brannten noch die Feuer.“ Ereignisse, die der heute 90-Jährige lange verdrängt hatte. „Wenn ich jetzt die Bilder aus dem Krieg in der Ukraine sehe, Kinder, die in U-Bahn-Schächten hausen, dann schlägt mir das richtig auf den Magen. Das ist alles sehr beklemmend.“
Der Vater starb durch eine Blutvergiftung, die Familie wurde 1943 ausgebombt, während des zweiten großen Angriffs saßen die Mutter und ihre Söhne im Zug auf dem Weg zurück aus Mecklenburg-Vorpommern ins Bergische. „Wir kamen nachts mit dem Zug in die kurz zuvor völlig zerstörte Stadt und haben erstmal zwei Wochen im Keller unseres Hauses ohne Wasser und Strom gelebt, bevor wir bei einer Tante einziehen konnten.“ Die Fenster waren kaputt, gegen das Rollglas schepperte der Wind. „Das war sehr unheimlich.“ Werner Wagenknecht erinnert sich, wie seine Mutter das Löschwasser im Keller mit einem alten Betttuch aufwischte.
Aber auch das Haus der Tante stand nur noch zur Hälfte. „Man konnte durch ein Brandbombenloch bis in den Keller gucken. Der aufgesetzte Giebel schwankte bedenklich und drohte in unser Schlafzimmer zu stürzen.“
An Schule sei nicht zu denken gewesen. „Wir hatten solche Lücken! Wir haben doch nur im Bunker gesessen.“ Angst? Die habe er als Kind dann nicht mehr gehabt. „Man konnte uns ja nichts mehr nehmen. Nur noch das Leben.“ Zurzeit fühle er sich wie der „hilflose Helfer“. Er hoffe, dass sein tägliches Gebet für Frieden in der Ukraine und die Hilfe für Flüchtlinge erhört wird. „Bitte, helft beten!“
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>>>HINTERGRUND
Auch in den Seniorenheimen ist der Ukraine-Krieg Thema, berichtet Elisabeth Schmidt, sie ist seelsorgliche Begleiterin im St.-Elisabeth-Seniorenzentrum. „Die Kriegserlebnisse treten zurzeit mit den Bildern im Fernsehen und in der Zeitung bei unseren Bewohnern ganz massiv wieder ins Bewusstsein.“ Vieles sei lange verschüttet gewesen und komme jetzt wieder hoch: Wie die Menschen in den Kellern saßen oder auf Pferdefuhrwerken im Winter geflohen sind. Manche träumten auch wieder von Sirenen und Brandbomben.
„Wir haben eine Bewohnerin, die nachts ans Fenster geht, um sich zu vergewissern, dass draußen alles ruhig ist und der Krieg nicht nach Meschede zurückgekommen ist.“ Das Thema werde nicht totgeschwiegen. „Wir lassen es zu“, sagt Elisabeth Schmidt. Dabei erlebten die Mitarbeiter aber die ganze Bandbreite der Gesellschaft, „von Bewohnern, die partout nicht darüber reden wollen bis zu Senioren, die viel Redebedarf haben. Manche, die sagen, da passiert uns schon nichts und andere, die den Feind schon vor der Tür stehen sehen.“
Die dementiell Erkrankten allerdings versuche man von den Bildern abzuschirmen, weil das Gefühl übermächtig würde und diese Bewohner noch mehr verstören könnte als andere.