Meschede. In einem Prozess um eine Massenschlägerei in Meschede gibt es Einblicke in das türkische-kurdische Verhältnis. Es ist von Bedrohungen die Rede.

Wer schlug denn nun als erster zu: Waren es die fünf Kurden, die jetzt angeklagt sind? Oder waren es die Türken, die in diesem Fall bislang als Opfer galten? Im Prozess um die Massenschlägerei zwischen beiden Parteien im Juli 2017 an der Aral-Tankstelle an der Briloner Straße in Meschede fährt jetzt jede Seite Zeugen auf, die ihre Version bestätigen sollen. Also: Wer lügt hier?

Zwei Sichtweisen

Drei Prozesstage hat es jetzt schon gegeben. „Wir haben zwei Sichtweisen, die sich widersprechen“, sagt Dr. Sebastian Siepe, Vorsitzender Richter in dem Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung vor dem Schöffengericht, das zur Einhaltung der Corona-Regeln eigens in die St.-Georgs-Schützenhalle ausgewichen ist. Siepe braucht aber objektive Fakten. Er merkt an, dass es diese bislang nur an einer Stelle gibt: Die Mescheder Türken, in diesem Prozess Nebenkläger mit der Hoffnung auf Schmerzensgeld, sind nach der Schlägerei vor Ort geblieben, bis die Polizei kam. Die Kurden dagegen sind (bis auf einen) weggelaufen – von den Türken ist deshalb auch dokumentiert, wie sehr sie verletzt wurden.

Wobei die Polizei nach der Schlägerei, erläutert einer der damals eingesetzten Beamten, zunächst gar nicht von einer so schwerwiegenden Auseinandersetzung ausging – erst als das St.-Walburga-Krankenhaus auf der Wache anrief, dass einer der Türken auf der Intensivstation bleiben müsse, wurde das nach und nach klarer. Der eine Kurde, der nicht weggelaufen war, ist einer von drei Brüdern, die angeklagt sind – an dem Abend wollte er gegenüber der Polizei nichts aussagen.

Mit dem Kantholz auf den Kopf

Hauptopfer ist ein 27 Jahre alter Mescheder Türke. Er sagt, er sei an der Tankstelle direkt von einem der angeklagten Kurden mit einem Kantholz angegriffen und auf den Kopf geschlagen worden. Die Kurden wiederum bleiben bei ihrer Version: Der 27-Jährige sei derjenige gewesen, der sie als erster geschlagen habe. Ein 41 Jahre alter Cousin der drei Kurden-Brüder sagt aus, er habe in der verhängnisvollen Nacht an der Tankstelle noch schnell etwas fürs Frühstück einkaufen wollen – als er aus dem Auto ausgestiegen sei, wäre der 27-Jährige sofort auf ihn zugekommen und habe ihm direkt ins Gesicht geschlagen. So hätte alles begonnen. Obwohl verletzt, blieb er nicht vor Ort: Er habe Angst vor der Ausländerbehörde gehabt, sagt er.

Hier auf dem Gelände der Aral-Tankstelle an der Briloner Straße in Meschede hatte sich die Massenschlägerei ereignet.
Hier auf dem Gelände der Aral-Tankstelle an der Briloner Straße in Meschede hatte sich die Massenschlägerei ereignet. © Ute Tolksdorf

Oberstaatsanwalt Thomas Poggel weist darauf hin, dass dieser Zeuge in der Vergangenheit schon mal wegen einer Falschaussage in Verbindung mit seinen Cousins angeklagt war – daran will sich der 41-Jährige aber nicht erinnern. Auch ein anderer Kurde (29), der früher nie aussagen wollte, sagt aus, er sei verletzt worden – sei aber ebenfalls aus Sorge vor der Ausländerbehörde bisher anonym geblieben.

Vorwurf: Radikalisierung

Richter Siepe fragt mehrmals nach, wie sich eigentlich dieser Streit in Meschede so plötzlich entwickeln konnte: „Jeder sagt, es war eigentlich ein ganz entspanntes Verhältnis zwischen Kurden und Türken – und plötzlich explodiert das an diesem Abend“. Einer der drei angeklagten Brüder, ein 30-Jähriger, bricht dafür erstmals sein Schweigen. Er wiederholt, was schon ein älterer Bruder angedeutet hat: Die jungen Türken in Meschede, mit denen die Kurden hier früher gemeinsam friedlich aufgewachsen seien, hätten sich radikalisiert.

Er bezeichnet den 27-Jährigen als „rechtsradikal“ und als Anführer der „Grauen Wölfe“ in Meschede – auch andere aus der Reihe der Opfer gehörten dazu: „Das ist eine geschlossene Gruppe.“ Widersprochen von Seiten der Opfer wird dieser Behauptung nicht. Das giftige Klima zeigt sich ansatzweise, als einer der Angeklagten im Prozess zur Toilette geht, wo er auf einen der Türken trifft – und danach dem Richter sagt, er sei auf dem Klo bedroht worden.

Abiball der Benediktiner

An dem Abend vor der Massenschlägerei war zuvor der Abiball des Benediktiner-Gymnasiums in der Schützenhalle gewesen, in der jetzt das Gericht tagt. Der 30-jährige Kurde hatte, nach Schließen seiner Shishabar, dort noch vorbeischauen wollen. Da war aber nichts mehr los. Zufälligerweise sei er dann an der Tankstelle vorbeigefahren, wo gerade die Schlägerei begonnen hatte. Er habe einen seiner Brüder im Vorbeifahren dabei erkannt, also wendete er – und mischte sich ein. Immer wieder werden im Prozess von Seiten der Staatsanwaltschaft, der Verteidiger der Kurden und des Anwalts der Nebenkläger der Türken die Zeugen gefragt, ob sie im Vorfeld für ihre Aussagen beeinflusst worden seien – niemand räumt das aber ein.

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Einer der wenigen in der Sache neutralen, weil unbeteiligten Zeugen ist ein 22-jähriger Deutscher, der zuvor auch beim Abiball mitgefeiert hat. Er sagt aus, der Streit habe nach seinem Eindruck begonnen, als zwei Autos vorfuhren – das waren die Kurden: „Es wirkte, als ging der Streit von den Leuten aus den Autos aus.“ Und: „Ich habe viele Verwundete gesehen.“ Er sah auch, wie auf den 27-jährigen Türken eingeschlagen wurde.

Tore gegen die Türken

Ein weiterer der Angeklagten, ein 29 Jahre alter kurdischer Syrer, der laut Türken als erster zuschlug, sagt ebenfalls erstmals aus: Er will in der Nacht überhaupt nicht in Meschede gewesen sein. Er hat für sich eine einfache Erklärung dafür gefunden, warum die Türken ihn beschuldigen: „Wegen Fußball. Die Türken haben doch nie gegen uns gewonnen.“ Der 29-Jährige schoss für seinen Verein Mezopotamya die Tore gegen die Türken: „Dafür hassen sie mich.“