Meschede. Er ist „Fall 9“ beim Pocken-Ausbruch in Meschede: Weil der Vater 1970 krank wird, verändert sich das Leben einer ganzen Familie dramatisch.
Die Serie um den Pocken-Ausbruch 1970 in Meschede hat auch viele Erinnerungen bei unseren Lesern wachgerufen. Im Fall von Annette Brockmann haben die Pocken das Leben einer ganzen Familie verändert.
Wegen Lungenentzündung im Krankenhaus
Annette Brockmann gibt intensive Eindrücke von einer Familie, die von den Pocken betroffen gewesen ist. Die heute 62-Jährige aus Winterberg ist die Tochter von Franz Hermes:
Ihr Vater wird in den Unterlagen der medizinischen Fachleute damals als „Fall 9“ geführt. Er liegt im St.-Walburga-Krankenhaus wegen einer Lungenentzündung - in dem Stock über den Pockenkranken. Er wird im Krankenhaus auf dem Luftweg mit den Pocken infiziert.
Ab 26. Januar hat er Fieber, drei Tage später gibt es die ersten Hauterscheinungen. Bei ihm wird Variolois diagnostiziert – nachher wird von einer mittelschweren Form der Pocken gesprochen. Er ist als Jugendlicher geimpft worden, hatte 1942 eine Auffrischungsimpfung erhalten.
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„Schrei von meiner Mutter in den Ohren“
Die Familie lebt in Ramsbeck. Der damals 56-Jährige ist ein einfacher Arbeiter, der gelernte Dreher fährt auf Baustellen zur Montage. Seine Frau darf ihn nicht im Krankenhaus besuchen: Wegen der Grippewelle herrscht dort ohnehin ein Besuchsverbot. Jetzt kommen die Pocken hinzu.
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Annette Brockmann, damals zwölf Jahre alt, erinnert sich, dass ihre Mutter mittags im Krankenhaus angerufen habe, um sich nach dem Vater zu erkundigen: „Da wurde ihr gesagt: Ihr Mann hat die Pocken. Er ist nach Wimbern gebracht worden. Ich habe jetzt noch den Schrei von meiner Mutter in den Ohren.“ „Wir waren total verängstigt“, sagt sie über sich und ihre achtjährige Schwester.
Die schlimmen Folgen
Die Reaktionen in Ramsbeck: Die Familie wird geächtet. „Vor uns und hinter uns in der Kirche blieben die Reihen leer. Die Leute hatten Taschentücher vor dem Mund, wenn sie uns sahen“, sagt Annette Brockmann.
Ihre Familie wiederum kennt auch die Familie von Bernd K. in Meschede, dem Mann, der die Pocken nach Deutschland brachte: „Wir trafen die Mutter von Bernd, als wir in Meschede ein Kommunionkleid für meine Schwester kaufen wollten. Die Frau hat solche Schuldgefühle gehabt.“
Direkten Kontakt mit dem Vater in der Pockenbehandlungsstelle in Wimbern darf es nicht geben. Die Familie kann nur Briefe schreiben, mehrmals ruft die Mutter in Wimbern eine Ordensschwester an, um sich nach ihrem Ehemann zu erkundigen.
Franz Hermes wird 82 Jahre alt werden. Doch sein Leben nach den Pocken wird ab 1970 ein anderes, sagt seine Tochter. Es beginnt mit scheinbaren Kleinigkeiten: Alle Sachen im Krankenhaus werden desinfiziert, dadurch aber ruiniert, erinnert sich Annette Brockmann - darunter der Rasierer. „Wir bekamen nicht mal das ersetzt, was er mit ins Krankenhaus mitgebracht hatte. Für meine Eltern war das eine Katastrophe.“ 165 Mark bekommt Hermes als Entschädigung, 800 Mark sind die Sachen wert.
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Viel schlimmer sind die gesundheitlichen Folgen: „Die Pocken sind meinem Vater aufs Herz geschlagen.“ Bei ihm entwickelt sich eine Herzkranzgefäßerkrankung: „Das hat aber niemand anerkannt.“ Ein altes Leberleiden aus der Kriegszeit tritt wieder auf. Hermes kann nicht mehr arbeiten. Später wird ihm ein halbes Jahr an Einzahlungen in die Rentenkasse fehlen, um eine Zusatzrente zu erhalten - das sind die Monate, die ihm durch die Pocken fehlen.
Die Geschichte ändert sich
Nach der Entlassung aus Wimbern leidet er wochenlang gesundheitlich an den Folgen: „Es ist ihm nicht geholfen worden. Da war er enttäuscht drüber. Man merkte ihm seine Verbitterung an.“ Geholfen worden sei nachher den Geschäftsleuten und den Betrieben im Fremdenverkehr: „Aber die Kranken sind außen vor behalten worden.“
Franz Hermes kann nicht mehr arbeiten. Das ändert alles, die ganze Familiengeschichte. Die Mutter muss putzen gehen, damit die Familie ihr Haus behalten kann – 20 Jahre lang, „die hat sich kaputt gemacht“. Annette Brockmann möchte gerne Säuglingsschwester werden. Aber die Familie kann die 500 Mark für die Ausbildung nicht aufbringen. Sie wird Verkäuferin. Die Familie kann sich kein Auto leisten, keinen Urlaub: „Mein Vater sagte, wenn ich nicht die Pocken bekommen hätte, wäre es uns allen besser gegangen.“ Bei ihrer Schwester entwickelt sich eine Krankenhausphobie: „Die kann bis heute keinen Krankenhausbesuch machen.“
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Ein Jahr nach den Pocken bekommt die Familie noch einmal Post aus dem Krankenhaus. Es geht nicht um eine Entschädigung: Die Kranken werden gebeten, Blut zu spenden, um an einem Gegenmittel zu arbeiten. Franz Hermes will nicht zurück ins Krankenhaus.
>>>HINTERGRUND: Die Kuriere<<<
Die Proben der Pockenerkrankten müssen 1970 mit dem Auto von Meschede aus nach München zur Überprüfung gebracht werden: Sie werden dort bei der Landesimpfanstalt überprüft. Zunächst werden Proben per Eilpost geschickt – das dauert aber zu lange. Es wird zu Kurierfahrten übergegangen: Insgesamt 15 Fahrten mit zusammen rund 18.000 Kilometern.
Behörden und Firmen stellen dafür Fahrer und Autos. Die Firma Köster aus Meschede stellt die Fahrer Horst Fritsch und Helmut Bücker, Firmenchef Franz Wiese gibt seinen Mercedes 250S her. Aus Bestwig und Warstein sind die Motorsportler Theo Stratmann bzw. Peter Cramer mit einem Alfa-Romeo 1750GT dabei. Der begeisterte Motorsportler Karl Freiherr von Wendt hat Grippe: Er schickt Fritz Schrieck und Reinhold Bültmann mit seinem BMW 2800 los. Josef Schulte von der Stadtverwaltung Meschede fährt mit einem Mercedes, Jürgen Becker wird mit einem Mercedes 250 losgeschickt, den Honsel stellt.
Clemens Richter und Willi Kotthoff fahren mit einem Ford 17 M der Firma Lahrmann nach Bayern. Vom Amt Bestwig sind Josef Neuber und Erich Hennecke mit einem Opel Kapitän unterwegs, für die Kreisverwaltung Josef Schmidt und Johannes Becker mit einem Opel 1700. Die Firma Möller aus Eversberg stellt ebenfalls Fahrer und Wagen wie die Amtsverwaltung in Warstein, das DRK und die Warsteiner Brauerei.