Meschede. Die ersten Gehversuche seines Sohnes sieht er nur aus dem Fenster. Denn Dr. Jochen Krapp muss beim Pocken-Ausbruch in Meschede mit in Quarantäne.

Er verbrachte als Arzt die Pockenzeit mit den Patienten im Mescheder St.-Walburga-Krankenhaus. Die ersten Schritte seines Sohnes konnte Dr. Jochen Krapp damals nur aus der Quarantäne beobachten. Der heute 83-Jährige erinnert sich.

„Man wusste natürlich nichts von Pocken“

50 Jahre liegt der Pockenausbruch zurück. Sie waren damals Oberarzt. Woran erinnern Sie sich?

Das war eine aufregende Zeit. Bernd K. kam aus Karachi wieder und war krank, seine Gelbsucht war nicht abgeklungen. Er ist im Januar hier mit Fieber und uncharakteristischen Beschwerden krank geworden. Man dachte an eine Grippe, verschärft um die Gelbsucht, aber es wurde nicht besser.

Während der Pockenzeit muss Dr. Jochen Krapp selbst in Quarantäne. Der 83-Jährige erinnert sich im Interview an die Ereignisse damals.
Während der Pockenzeit muss Dr. Jochen Krapp selbst in Quarantäne. Der 83-Jährige erinnert sich im Interview an die Ereignisse damals. © Jürgen Kortmann

Man wusste natürlich nichts von Pocken. Er kam in unser Krankenhaus in die Isolierstation. Das war an einem Wochenende. Ich weiß das so genau, weil da mein zweiter Sohn ein Jahr alt geworden ist. Ich wollte eigentlich das Wochenende mit der Familie verbringen. Dann hat K. kleine rote Fleckchen bekommen, ebenfalls ganz uncharakteristisch. Keiner konnte etwas damit anfangen. Dann kamen die Pusteln und Bläschen, die haben sich infiziert, wurden eitrig und sind aufgebrochen. Da war alles klar.

Wie müssen wir uns das vorstellen? Plötzlich kommt die Mitteilung, „wir haben Pocken“: Und dann?

Noch am selben Tag sind Experten aus Düsseldorf gekommen: Dr. Ippen als Leiter der Hautklinik in Düsseldorf und Dr. Richter als Leiter der Landes-Impfanstalt, das war die so genannte „Pockenkommission“. Die haben sich dann Bernd K. angeschaut, und gesagt: „Das sind Pocken!“ Die Ärzte und die Schwestern erhielten daraufhin sofort eine Impfung. Ich war als Kind schon zweimal erfolgreich geimpft. Das war dann eine Auffrischung. Deshalb hatte ich auch keine Angst.

„Die Patienten hatten gleich einen Arzt mit drin!“

Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag verändert? Parallel waren ja viele Grippe-Kranke im Krankenhaus.

Ja, es war ziemlich voll. Die Pockenkommission hatte einen genauen Plan, nach dem sie vorging. Alle, die mit Bernd K. in Kontakt waren, wurden außer Verkehr gezogen. Da war auch mein Chef Dr. Konrad Müller dabei. Er ist gleich in Quarantäne gekommen, allerdings durfte er die Zuhause verbringen - er wurde dort isoliert. Das gleiche geschah auch mit zwei anderen Ärzten. Dadurch war ich jetzt der Chef: Ich war damit für die ganze Innere Abteilung und die Pockenkranken zuständig. Ich war auch der Ansprechpartner für die Impfkommission.

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Wie lief das praktisch weiter?

Es war viel Arbeit. Ich habe die Patienten zweimal am Tag besucht, einmal morgens, einmal abends, und nach der Temperatur geschaut, nach möglichen Hautveränderungen, nach Beschwerden gefragt. Ich war von morgens bis spätabends im Einsatz.

Dr. Jochen Krapp 1970 in seinem Zimmer in der Quarantäne.
Dr. Jochen Krapp 1970 in seinem Zimmer in der Quarantäne. © Privat

Nach kurzer Zeit bin ich ins Krankenhaus eingezogen, dann war ich Tag und Nacht dort. Ich musste ja auch isoliert werden. Ich hatte zwar Bernd K. nicht gesehen, aber die ganze nachfolgende Generation von Erkrankten ist ja dann durch meine Hände gegangen. Dann bin ich mit im Rochushaus, also der Isolierstation, eingesperrt worden. Praktisch war: Die Patienten hatten gleich einen Arzt mit drin! Ich war zwei Monate dort, ununterbrochen. Ich hatte ein Zimmer für mich, ins Raucherzimmer wurde ein Bett hineingestellt. Das war ein bisschen Behelf. Anfang März 1970 bin ich wieder rausgekommen.

Wie war das Leben in der Quarantäne?

Wir waren eben wie kaserniert. Ich war die ganze Zeit gut beschäftigt, da waren viele Gespräche, viele Patienten mit Sorgen. Natürlich war da auch Langeweile. Die Patienten durften nicht aus ihren Zimmern heraus. Es gab damals noch keine Toiletten auf den Zimmern, nur zum Duschen durften sie raus. Es waren drei Stationen in dem Haus. Die Schwestern sind zum Teil mit im Haus geblieben. Wir haben die Arbeit und die Betreuung geleistet.

Aus dem Fenster heraus die ersten Gehversuche bewundert

Wie hatten Sie Kontakt zu Ihrer Familie? Hatte die keine Angst?

Nein, die war auch gleich mitgeimpft worden. Kontakt hatten wir telefonisch. Und meine Frau kam mit den Kindern jeden Tag einmal vorbei: Auf der anderen Straßenseite. Da haben wir uns zugewunken, dabei konnte ich ja niemanden anstecken. Bei so einem Besuch hat mein Sohn dann seine ersten Schritte gemacht. Vom Fenster aus konnte ich die bewundern. Das bleibt in Erinnerung. Meine Frau hat dann mal einen Kuchen mitgebracht, mal andere Kleinigkeiten. Die wurden vor dem Haus abgestellt. Wenn die weg waren, gingen wir hinunter und haben sie uns geholt.

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Rückblickend betrachtet: Hat sich das ganze Katastrophen-Management aus Ihrer Sicht bewährt?

Ja, unbedingt! Das Organisatorische war kein Problem und die beiden Koryphäen von der Kommission im Hintergrund konnte ich immer fragen. Die waren für mich immer erreichbar, sie riefen auch jeden Morgen an, und erkundigten sich. Der Ausbruch ist eingedämmt worden. Die Erkrankten hatten sich schon infiziert, bevor man die Pocken bei Bernd K. diagnostiziert hatte. Nachher hat man uns dann aufgeklärt, dass die Pocken so rabiat durchs Treppenhaus und einen Essensaufzug verbreitet wurden. Draußen war es kalt gewesen, im Krankenhaus war es heiß. Es gab noch das Alles-oder-Nichts-Gesetz: Man konnte nichts an der Heizung verstellen. Deshalb hatten die Patienten die Fenster offen, auch Bernd K. Die Zimmer schräg darüber haben es abbekommen.

Im Unterricht immer auf die Pocken hingewiesen

Was verbinden Sie im Rückblick mit der Zeit?

Es war für mich eine lehrreiche Zeit. Ich habe diese konsequente Abschottung selbst erlebt. Es genügen wenige Viren, um an den Pocken zu erkranken. Ein Augenblickskontakt genügt, vor allem, wenn die Infektion noch im Nasen-Rachen-Bereich ist. Dann hustet der Erkrankte und mit jedem Atemzug werden die Viren ausgestoßen.

Nach der Quarantäne war das Thema erledigt?

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Ja. Danach kam ich in die Abteilung zurück. Da wartete die ganz normale Arbeit, das Haus war desinfiziert worden. Es ging einfach weiter wie gehabt. Ich habe es allerdings später immer weitererzählt. Ich habe viel unterrichtet: Die Pocken waren Thema in jedem Jahrgang in der Krankenpflegeschule, damit die Schüler und Schülerinnen über eine so schwere Infektionskrankheit gehört haben und wissen, welche Maßnahmen man ergreifen muss. Dann versteht man besser, warum Infektionskranke isoliert werden müssen und man sich vorsichtig verhalten sollte, mit Mundschutz zum Beispiel.

Schlimme Anfeindungen

Kann man Bernd K. eine Schuld geben?

Nein! Der war damals in seiner Sturm-und-Drang-Zeit und ist mit seinen Freunden nach Asien gegangen. Er ist mit einer Gelbsucht zurückgekommen. Die Pocken hat er sich wohl in den drei Nächten geholt, als er vielleicht auf irgendwelchen Matratzen in Karachi geschlafen hat. Aber das war ja keine böse Absicht. Ich habe auch nie in der Quarantäne gehört, dass über ihn geflucht wurde. Ich fand es schlimm, als ich hörte, dass die Eltern von Bernd K. angefeindet wurden. Das wäre heute vermutlich noch viel schlimmer… Aber was konnten die Eltern dafür? Überhaupt nichts! Die haben ihren Sohn nicht weggeschickt, sondern der ist einfach losgefahren. Erwachsen war er ja.

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>>>HINTERGRUND<<<

Dr. Jochen Krapp ist gebürtiger Münsteraner, er studierte auch in Münster Medizin.

1968 hat er angefangen, im St.-Walburga-Krankenhaus in Meschede zu arbeiten. Er lebt auch heute noch in Meschede.

1973 bis 1997 war er Chefarzt (und Nachfolger von Konrad Müller) der Inneren Abteilung.

Im Jahr 1972 wurde ihm auch das Bundesverdienstkreuz als Zeichen der Anerkennung für seinen Dienst in der Pocken-Zeit verliehen.

Getragen hat er das Bundesverdienstkreuz damals nur bei der Verleihung: „Ich bin kein Ordensträger. Ein bisschen stolz bin ich trotzdem darauf. Aber damit ist es auch gut.“